Kiyaks Deutschstunde: Nichts Neues im alten Denken

 
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Kiyaks Deutschstunde
29.11.2018
 
 
 
 
Was meinen Politiker, wenn sie sagen, was sie sagen? Und: Was meinen sie wirklich? Mely Kiyak sagt’s Ihnen!


Nichts Neues im alten Denken
 
Die Buchverlage bewerben bereits die Titel der kommenden Saison. Wenn es um politische Bücher geht, entdeckt man in den Vorschauen viel Reaktion, aber kaum Vision.
VON MELY KIYAK


Ende September zeigen die internationalen Modewochen in New York, London, Mailand und Paris, was im Frühjahr getragen wird. Etwas Ähnliches gibt es auch in der Verlagswelt. Dort verschicken ab Ende November deutsche Verlagshäuser wie Suhrkamp, Hanser, Rowohlt und Kiepenheuer & Witsch prächtig ausgestattete Vorschauen, in denen sie die Romane und Sachbücher der kommenden Saison bewerben. Autorenkollegen aus dem Ausland sind jedes Mal wieder beeindruckt, wie opulent, liebevoll und großzügig ausgestattet diese Vorschauen sind. Es handelt sich um Werbung, klar, einerseits. Andererseits könnte man lecture performances mit diesen Katalogen veranstalten, und sie rückwärts vorlesen wie eine Chronik des deutschen Denkens, Fühlens und Sprechens der vergangenen Jahrzehnte.
 
Was die "Diskursliteratur" betrifft, gibt es schon lange kein wegweisendes deutsches Denken mehr. Nur zur besseren Verständigung: "Diskursliteratur" als Gattung gibt es nicht. In Deutschland gibt es den Begriff der Sachbuchliteratur, der kritische Theorien, Philosophie und Zeitgeschichte genauso umfasst wie Bücher über Bäume oder kohlenhydratfreie Ernährung.
 
Könnte man sich, was die vergangenen 30 Jahre betrifft, auf ein Werk eines deutschen Philosophen oder Intellektuellen einigen, das mitten in das Herz der internationalen Öffentlichkeit gezielt und getroffen hätte? Etwas, von dem sich Politiker wie Autoren, bildende Künstler wie Architekten, Sozialwissenschaftler wie Psychologen, Anthropologen wie Biologen auf der ganzen Welt gemeint, inspiriert oder angesprochen gefühlt hätten?
 
Wie eine Fachtagung
 
Es gab mal Zeiten, da war das so. Wir sind das Land der aufklärenden Philosophen. Deutsche Denker wie Kant, Schopenhauer und Nietzsche, aber auch Heine und Goethe werden in der ganzen Welt gelesen. Von Kant bis Habermas, Benjamin, Arendt, Adorno, und wer unbedingt darauf besteht, weil er in Enzensberger einen Philosophen sieht und keinen Gesellschaftskritiker, der er wohl eher ist, eben auch Hans Magnus Enzensberger. Und dann nichts.
 
Was Safranski und Sloterdijk betrifft, machen sie es zunehmend so wie Günter Grass in seinen letzten Jahren. Hin und wieder eine Einmischung in die aktuelle Politik, die sie besser hätten bleiben lassen sollen, weil sie auf dem Debattenstand vom Vormittelalter sind. Bei Grass war es sein bekanntes Israelgedicht, das ihm ein letztes Mal internationale Aufmerksamkeit bescherte. Sloterdijks letzter wegweisender Gedanke, den er im Schweizer Monat formulierte, sollte zu einer gerechteren Gesellschaft führen, indem man das Steuersystem ("Fiskalkleptokratie") durch ein System der freiwilligen Abgabe, also eine Art Spende, ersetzen sollte. Safranksi schrieb in seinem letzten Buch über die Zeit. Danach tote Hose. Auch weiter oben. Spiegel-Interview: Alexander Gauland, sehr klug, kein Nazi (dem übrigens "nur wenige intellektuell und geistig das Wasser reichen können"), ansonsten "inflationäres Geschwätz von Fremdenfeindlichkeit", Angela Merkel hat Deutschland mit ihrer Migrationspolitik "geflutet", sie hätte Safranksi vorher um Erlaubnis bitten müssen, kurz: viel altes deutsches Denken.
 
Man schaut also durch die Vorschauen und bestellt und liest, und das meiste, was man in die Hände bekommt, funktioniert wie eine Fachtagung. Monothematisch arbeiten sich Autoren, Journalisten oder Wissenschaftler an einzelnen politischen Konzepten ab. Egal, ob Windkraftenergie, Manieren, Erziehungskonzepte oder Konsumverhalten, immer wird Vorhandenes beschrieben und Geschehenes rekonstruiert. Wo ein Bedarf festgestellt wird, fordert man eine Quote, einen zusätzlichen Fahrradweg oder noch mehr Polizei und Lehrer. Also alles genauso wie in der Politik. Ist ja auch logisch. Politiker sind ja keine Denker, sondern Umsetzer. Wo es keinen klugen Gedanken gibt, kann man auch kein Konzept daraus entwickeln.
 
Was die gesellschaftskritischen Werke betrifft, so ist auffällig, dass es fast nichts gibt, was man als neue Theorie verstehen könnte. Gerade was als Reaktion auf radikales rechtes Denken publiziert wird, ist im wörtlichen Sinne immer bloße Reaktion. Minutiös werden politische Vorgänge geschildert, man erzählt akribisch nach. Viele Bücher, die sich mit Rechtsextremismus beschäftigen, stammen von Journalisten, die natürlich das machen, was sie am besten können: Rekonstruieren und Bericht erstatten. Wo aber bleibt die Vision? Etwas, das über das Ausplaudern von Vier-Augen-Gesprächen, SMS und Ausschusssitzungen hinausgeht? Die zwei weltweit am meisten beachteten Werke über amerikanische Politik Fire and Fury von Michael Wolff, wie auch Fear von Bob Woodward funktionieren nach dieser Methode: Minütliches Protokoll, wer wann wo reinkam und was sagte. Zugegeben, liest sich köstlich, aber es fällt erstens auf, dass jetzt alle so schreiben und zweitens, diese Bücher sind mit kritischem Denken nicht gemeint. Kritisches Denken beginnt dort, wo man diese Werke bereits kennt und anfängt zu denken.
 
"Von Freundschaft in finsteren Zeiten"
 
Brauchen wir in Deutschland das hundertste Buch, das uns vor der rechtsradikalen, reaktionären Sehnsucht der Bevölkerung warnt? Obwohl es Wilhelm Heitmeyer bereits Ende der Neunzigerjahre auf das Phänomen der "rohen Bürgerlichkeit" hinwies und darin bereits Anzeichen von Verachtung einzelner Bevölkerungsgruppen untereinander nachwies? 2001 erschien bei Suhrkamp Schattenseiten der Globalisierung: Rechtsradikalismus, Rechtspopulismus und separatistischer Regionalismus. Das war ein wegweisendes Buch. Heitmeyer immer gelesen zu haben, bedeutet, seit bereits mehr als 20 Jahren auf dem Stand von heute zu sein.
 
Früher recherchierten Journalisten jahrelang über die Finanzströme von extremistischen Organisationen und schrieben dann ein Buch. Heute erreicht uns jede Woche ein solcher Bericht, weil auch Medien sich vernetzen, weil sie schneller und besser geworden sind. Das was früher ein ganzes Buch war, steckt heute in einem einzigen Artikel. Siehe die neuesten Recherchen über "Hannibals Schattenarmee" der taz-Kollegen, die über Revolutionspläne deutscher Elitesoldaten in der Bundeswehr berichten, die bestens vernetzt sind in deutsche Behörden.
 
Selbstmitleid und Abschottungswahn
 
Und so stöbert man in den Verlagsschauen und findet seine These "nichts neues, alles schon mal da gewesen, alles schon mal woanders gelesen" auch dort, wo man verlässlich auf Perlen stößt. Matthes & Seitz eröffnete diese Woche ihre Novembernovitäten im Pressenewsletter mit dem Hinweis auf Bernd Stegemanns Moralfalle. Stegemann ist Sahra Wagenknechts und Oskar Lafontaines Chefdenker ihrer #aufstehen-Bewegung. Die neurechte Linke hat endlich ihren Theorieaufsatz, und den will man natürlich unbedingt lesen. Beworben wird das Buch mit einem sagenhaft neuen Gedanken: "Eine Moral, die fast immer nur bei Verstößen gegen Political Correctness zum Einsatz kommt und so gut wie nie Probleme mit dem Neoliberalismus hat, wird für die Linke zur Falle. Nur wenn die Linke sich von Sprechverboten verabschiedet, wird sie es schaffen, der Rechten die Diskurshoheit wieder zu entziehen." Dann folgen Hinweise auf zwei Bücher über Insekten. Dazu muss man wissen, dass Matthes & Seitz gemeinsam mit Judith Schalansky die bahnbrechend schön gestaltete und geistreiche Naturkunden-Reihe erfand, die in einer Tradition der britischen Naturkundebücher steht.

Und dann, weiter unten, ganz ganz unten, also als allerletztes, wie in einer Art Fußnote, findet man den Hinweis auf ein Buch mit einem Text von 1960. Da bekam Hannah Arendt den Lessing-Preis der Stadt Hamburg und hielt eine wahnsinnige Rede, in der sie von einer Brüderlichkeit spricht (hat sie von Lessing übernommen), die aus einem Hass auf die Welt entsteht, weil Menschen "unmenschlich" behandelt werden. Ein Hass also, der sich eben nicht aus Selbstmitleid speist und sich ethnisch und kulturell abgrenzt, sondern aus Empathie, Mitleid und Sorge für den anderen entspringt.
 
Diese Rede – wer sie einmal gelesen hat, wird sie nie vergessen – ist eine einzige Anklage gegen all jene, die "das große Privileg genießen, von der Sorge um die Welt unbelastet zu sein". Also ein totales Antibuch zu dem neurechten Selbstmitleid, Abschottungswahn und Abgrenzungsterror der heutigen Zeit. Das Buch heißt Von Freundschaft in finsteren Zeiten und dokumentiert die Rede im Wortlaut mit Erinnerungen von Richard Bernstein, Mary McCarthy, Alfred Kazin und Jerome Kohn.


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