Ist die Zeit nun gekommen, eine europäische Armee zu schaffen? Ein erster Anlauf, die Gründung einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG), ist 1954 gescheitert, und zwar in der französischen Nationalversammlung. Heute, 64 Jahre später, ertönt aus Paris sehr laut und sehr entschieden der Ruf, die militärischen Kräfte des Kontinents zu bündeln.
Für Staatspräsident Emmanuel Macron ist das eine Frage der Souveränität. "Wir werden die Europäer nicht schützen, wenn wir uns nicht dazu entschließen, eine richtige europäische Armee zu haben", sagte er Anfang des Monats in einem Interview mit dem Radiosender Europe 1. Europa müsse sich selbst verteidigen können, auch ohne die Vereinigten Staaten.
Eine Äußerung, die Donald Trump "sehr beleidigend" fand. Zur Strafe gab er bei seinem Besuch in Paris zum Gedenken an das Ende des Ersten Weltkriegs Macron auf den Stufen des Élysée-Palastes nicht die Hand. Der amerikanische Präsident hat schon verstanden, dass sein rüder Umgang mit den Nato-Partnern die neue Debatte über eine europäische Armee ausgelöst hat. Sollte er also nicht zufrieden sein, wenn die Europäer nun endlich mehr für die eigene Verteidigung tun wollen? Genau das hat er doch immer gefordert. Aber so hatte er sich die Sache natürlich nicht gedacht – dass die Europäer einfach ihr eigenes Ding machen. Vorausgesetzt, sie schaffen das.
Merkel bleibt vage
Womit wir bei der Bundeskanzlerin wären. Angela Merkel hat sich hinter die Forderung Macrons gestellt und vor dem Europäischen Parlament für eine "echte europäische Armee" plädiert. Sie nahm ein Thema wieder auf, das sie vor einem Jahr, zutiefst frustriert von einer Begegnung mit Trump, schon im Bierzelt von Trudering angeschlagen hatte, nämlich "dass wir Europäer unser Schicksal stärker in unsere eigene Hand nehmen müssen".
Hat die Bundeskanzlerin in Straßburg also, anders als es sonst ihre Art ist, einmal richtig Klartext geredet? Na ja. Wörtlich sagte sie: "Wir sollten (...) an der Vision arbeiten, eines Tages auch eine echte europäische Armee zu schaffen." Das hört sich dann schon etwas anders an: "Vision", "eines Tages". Vor allem der ergänzende Satz: "Das ist ja keine Armee gegen die Nato – ich bitte Sie."
Ein Fanal zum europäischen Aufbruch war Merkels Plädoyer für gemeinsame Streitkräfte nicht, eher Ausdruck einer Vorsicht, die vollkommen vernünftig ist. Auf Jahre, vermutlich auf Jahrzehnte wird Europa nicht in der Lage sein, sich ohne die Vereinigten Staaten zu verteidigen – Macrons Ruf nach Souveränität hin oder her.
"Hoffnung ist noch keine Strategie"
Die USA tragen fast drei Viertel der Verteidigungsausgaben aller Nato-Staaten. Gemeinsam mit Großbritannien, das demnächst die EU verlassen wird, sind es sogar 80 Prozent sämtlicher Militäretats. Von der technologischen Überlegenheit der US-Streitkräfte und der amerikanischen Nukleargarantie ganz zu schweigen.
"Hoffnung ist noch keine Strategie", kommentierte dieser Tage ein amerikanischer Beobachter die Debatte in Europa.
Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg hat auf einer Konferenz in Berlin darauf hingewiesen, eine europäische Armee mache nur dann Sinn, wenn sie den europäischen Pfeiler innerhalb der Nato stärke. Beginne die EU aber, eigene Kommandostrukturen aufzubauen, wäre ein großes Durcheinander zu befürchten – und am Ende eine Schwächung der Verteidigung Europas.
Eine gemeinsame Armee würde ins Ungewisse führen
Ursula von der Leyen hält es denn auch eher mit der vorsichtigen Kanzlerin. Statt von einer "echten europäischen Armee" spricht die Verteidigungsministerin lieber von einer "Armee der Europäer". Sie lobt die Projekte einer engeren verteidigungspolitischen Kooperation unter den Europäern, wie die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit (Pesco) und den Europäischen Verteidigungsfonds – alles vernünftige, praktische Schritte, um Geld zu sparen und gemeinsame Einsätze überhaupt erst möglich zu machen. So verstanden, könnte die Nato tatsächlich von zusätzlichen Anstrengungen Europas profitieren.
Aber die Unterschiede im Denken und Handeln der Europäer bleiben und man sollte sie auch nicht weg wünschen. Frankreich ist in der Regel rasch zum militärischen Eingreifen bereit, manchmal zu rasch, wie sich 2011 in Libyen zeigte. Deutschland hält bisher an seiner historisch gut begründeten "Kultur der Zurückhaltung" fest. In Paris entscheidet der Präsident, in Berlin das Parlament. Frankreich ist Atommacht, Deutschland hat feierlich und für alle Zeiten Nuklearwaffen abgeschworen.
Dies alles ist nicht leicht zusammenzubringen. Meint Europa es ernst mit einer gemeinsamen Armee, dann macht es sich auf einen langen Weg. Der würde nicht nur unfassbar teuer werden, sondern auch ins Ungewisse führen. Schlimm genug, dass Trump in all seiner Beschränktheit an den Festen des transatlantischen Bündnisses rüttelt. Europa sollte ihm nicht den Triumph gönnen, vor aller Welt die Schwächen der EU zu offenbaren, indem es Truppen sammelt, die es gar nicht hat.