"Ach, China!", hörte ich neulich einige deutsche Politiker sagen, dieses Land sei "überaltert, überdehnt und überbürokratisiert". Das schnelle Wachstum sei nicht nachhaltig, die Umweltverschmutzung riesig, die Schere zwischen Arm und Reich wachse. Das Regime werde immense Probleme bekommen. Solche Urteile sind nicht unbedingt falsch, aber sie führen manchmal zu falschen Schlüssen.
Zum Beispiel dem, dass ein autoritäres Regime kurz vor einer großen Erschütterung stehe. Die Erinnerung lässt uns gern an das Ende der Sowjetunion denken oder an die arabischen Aufstände. Seitdem gibt es im Westen eine reflexhafte Hoffnung, dass ein autoritäres Regime bei großen Problemen automatisch zur Disposition stehe. Doch die Erinnerung kann trügen.
Die vergangenen Jahre haben im Gegenteil eine erstaunlich erschreckende Widerstandsfähigkeit von autoritären Regimen gezeigt. Das hat ganz konkrete Gründe. Das Zeitalter der Aufstände scheint vorerst vorbei zu sein. Das heißt nicht, dass sie nicht wiederkommen. Aber derzeit scheint in vielen Ländern der Appetit, einen autoritären Herrscher zu stürzen, stark gezügelt zu sein. Vier Beispiele:
In Russland erwarteten 2014 eine Reihe westlicher Beobachter, dass der Cocktail aus Sanktionen, niedrigem Ölpreis, wirtschaftlichem Niedergang und wachsender Repression Präsident Putin zum Nachgeben oder gar zu Fall bringen würde. Das Gegenteil ist eingetreten. Russland ging durch eine schwere Wirtschaftskrise, das Volkseinkommen sank erheblich, doch Putin steht trotzdem unangefochten da.
In China haben die Probleme des schnellen Wachstums nicht zum Nachgeben des Regimes geführt, sondern zu einem Ausbau des autoritären Staates. Der Journalist Kai Strittmatter zeigt in seinem neuen Buch Die Neuerfindung der Diktatur. Wie China den digitalen Überwachungsstaat aufbaut und uns damit herausfordert, wie das Regime sich den neuen Menschen schafft – einen Untertan so perfekt, wie die Herrscher der analogen Vergangenheit ihn nie kannten.
In Syrien haben westliche Regierungen zu Beginn des Krieges mit dem zügigen Sturz des Diktators Baschar al-Assad gerechnet. Und ihre ganze Politik darauf ausgerichtet. Die Nahostexpertin Kristin Helberg zeichnet in ihrem Buch Der Syrien-Krieg. Lösung eines Weltkonflikts die Verwandlung der syrischen Diktatur nach: eine Metamorphose, um an der Macht zu bleiben. Assad regiere noch, aber "Assads Syrien" gebe es nicht mehr. Auch nicht das Syrien, von dem die Opposition träumte. Das Land gehöre nun Assads Verbündeten, die ihn an der Macht gehalten haben, den Milizenführern und Geschäftemachern, den Iranern, den Russen. Ein Herrschaftswechsel, bei dem Assad noch nicht mal aus dem Sessel aufstehen musste.
In der Türkei stehen Präsident Recep Tayyip Erdoğan die Herausforderungen einer schweren Wirtschaftskrise noch bevor. Doch auch bei ihm darf niemand einen schnellen Sturz erwarten. Die Medien sind gleichgeschaltet, das Volk in Erdoğans Sinne gespalten und geschwächt, Staat und Wirtschaft werden gesäubert, ein AKP-Staat geschaffen. Der Unmut in Teilen der Bevölkerung ist groß, aber er hat kein Ventil, außer: Wem die Richtung nicht passt, wandert aus.
Rückgriff auf den Nationalismus
Es ist eine schlechte Zeit für Aufstände. Viele sind erschöpft von den Unruhen vergangener Zeiten. Gerade in Russland sind die tumulthaften Neunzigerjahre das Hauptargument gegen jeden Versuch einer Protestbewegung. Stabilität ist in. Autoritäre Herrscher wissen das digitale Zeitalter besser für sich zu nutzen als ihre Gegner. Die digitale Kontrolle weitet sich zu einem Totalitarismus 4.0 aus.
Versagen die neuen Mittel, so wirkt immer noch eine alte Methode: der Rückgriff auf den Nationalismus, die Mobilisierung des Volkes gegen die Außenwelt, den Anderen, den Feind. Unaufhörlich zeigen russische, chinesische oder türkische Staatsmedien auf das Verblassen des westlichen Modells. Der vermeintliche Mangel an Alternativen lässt die bescheidene Realität zu Hause glänzen.
Für demokratische europäische Politiker wäre es verhängnisvoll, nur auf die Schwächen autoritärer Regime zu schauen. Sie sollten ihre Strategie nicht auf das mögliche Ende ihrer Rivalen ausrichten, sondern vielmehr auf deren möglichen Erfolg und ihre düstere Anziehungskraft. Die Tatsache, dass Putin eine schwere Wirtschaftskrise überstanden hat und Assad trotz Krieg und Isolation immer noch an der Macht ist, zeigt die Überlebenskunst der Autoritären.
Das selbstberuhigende Runterreden sollte man getrost ihnen überlassen. Die gelenkten Regimemedien in autoritären Staaten überschlagen sich gierig mit Szenarien vom Zerfall Europas und des Westens. Hoffen wir, dass sie sich genauso irren wie manche westliche Politiker mit den Vorhersagen über die Diktaturen.