Wo im Winter vor fünf Jahren das Blut der Bürger zwischen den Pflastersteinen ins Erdreich sickerte, liegt dieser Tage wieder Schnee. Es ist kalt. Und am Maidan, dem großen Unabhängigkeitsplatz im Zentrum Kiews, gehen die Ukrainer in Anoraks und Mänteln die Institutska-Straße hinauf. Der Weg führt zum Parlament und zur Präsidialverwaltung. Wer dorthin möchte, muss in die Augen von 100 Toten schauen. Auf einem meterlangen Altar aus Beton sind am Straßenrand die Fotos der Opfer der Euromaidan-Revolution aufgereiht.
Auch Anastasia läuft heute mit ihrer Gitarre auf dem Rücken jene Strecke entlang, auf der vor fünf Jahren die Männer auf den Fotos wie Sandsäcke zu Boden fielen: erschossen auf offener Straße von Spezialeinheiten der Polizei.
Es war zu einer Zeit, als viele Europäer dachten, Krieg könne es nur noch auf fernen Kontinenten geben und Russland sei ein freundlicher Staat in der östlichen Nachbarschaft. Damals nahm mitten in Kiew, im Herzen einer europäischen Metropole, ein Krieg seinen Anfang, der noch immer nicht ausgestanden ist.
Aus Studentenprotesten wuchs eine gewaltige Revolutionsbewegung. Auf dem Unabhängigkeitsplatz, eingezäunt von Barrikaden aus Autowracks, Bettgestellen und Pflastersteinen, entstand ein Zeltlager samt Suppenküchen, Bühnen, Hunderten Schlafplätzen und Katapulten.
Anastasia, heute 29 Jahre alt, war dabei, als sich die Ukrainer gegen den damaligen Präsidenten Wiktor Janukowitsch erhoben – von der ersten Nacht im November 2013 bis zum letzten Tag im Februar 2014, an dem so viele ihr Leben verloren. In Militärhose, mit Schienbeinschonern und Schlagstock, Gasmaske und Armeehelm auf dem Kopf stand sie an den Barrikaden in der ersten Reihe. Sie war eine von Hunderten Frauen, die auf dem Maidan Seite an Seite mit ukrainischen Männern kämpften. Als wir uns damals das erste Mal begegneten, tropften Anastasias Sachen. Jacke und Hose waren durchnässt von den Wasserwerfern der Polizei.
"Die Politiker haben uns betrogen, nicht zum ersten und auch nicht zum zweiten Mal." Diesen Satz hatte sie mir im Rauch der brennenden Barrikaden zugebrüllt, nachdem ich nach dem Warum gefragt hatte.
Heute trägt Anastasia einen Cowboyhut über den dunklen langen Haaren. Ihr linkes Ohr ist von zwei Ringen durchstochen. Auf ihrer Stirn verläuft eine Narbe. Sie erzählt von ihren Erlebnissen an der Front im Osten der Ukraine, wo sie nach der Revolution als Kartenleserin und Drohnenpilotin acht Monate lang freiwillig kämpfte. Mit dem Abstand von jetzt fast fünf Jahren frage ich sie wieder nach dem Warum. Sie zögert nicht lange: "Weil ich es mag zu helfen. Weil ich mein Land liebe. Weil all meine Freunde auch dabei waren. Und weil ich was tun musste."
Die Ukraine hat das Bewusstsein einer selbstbestimmten Nation gewonnen
Anastasia sagt, die Ukraine könne stolz sein auf das Erreichte. Russland habe als Antwort auf die Freiheitsbewegung des Maidan den Krieg begonnen. 12.000 Menschen sind dabei bis heute getötet worden. "Krieg ist Krieg", sagt sie, schaut etwas ungläubig und greift zu ihrer Gitarre. Seit sie von der Front zurückgekehrt ist, spielt sie oft als Straßenmusikerin, hier in Kiew oder in Barcelona und Athen. Sie reise viel, sagt sie, und ihre Rastlosigkeit ist spürbar.
Was ist das Erbe des Euromaidan, der Revolution der Würde, wie viele Ukrainer den Umsturz von damals heute nennen? Und ab wann kann man eigentlich sagen, eine Revolution habe sich gelohnt? Anastasia nickt. Sie kenne unzählige Freunde, eine ganze Generation, die durch die Maidan-Zeit politisiert wurde. Ja, sagt sie, die Ukraine habe für ihre Revolution mit einem Krieg und viel Blut zahlen müssen, aber gewonnen habe das Land dafür eine ganz neue Freiheit: das Bewusstsein, eine selbstbestimmte Nation zu sein.
Der Marquis de Condorcet, Erfinder der Volksinitiative, schrieb schon im 18. Jahrhundert: "Das Wort 'revolutionär' ist nur auf solche Revolutionen anzuwenden, deren Ziel die Freiheit ist." Insofern hat Anastasia einen Punkt. Doch wenn man dieser Tage durch Kiew läuft und mit Antikorruptionsaktivisten spricht, mit Journalistinnen oder Parlamentariern wie Switlana Salistschuk oder Serhij Leschtschenko, die erst durch die Revolution zu Politikern wurden, schwingt bei allem Stolz der Revolutionäre auch etwas anderes mit: die Gewissheit, dass der Kampf für eine gerechtere Gesellschaft fünf Jahre nach dem Volksaufstand noch lange nicht am Ziel ist.
Noch immer kontrollieren Oligarchen die großen Fernsehsender der Ukraine. Viele Richter sind korrupt wie eh und je. Und für die Präsidentschaftswahlen im Frühjahr und die Parlamentswahlen im Herbst kommenden Jahres fürchten viele Beobachter, dass skrupellose Politiker wieder Stimmen kaufen werden.
Anastasia lächelt trotz allem. Bevor sie ihre Gitarre nimmt und die Institutska-Straße entlangläuft, sagt sie noch einen Satz, der an die Zeit des Maidan erinnert und gleichzeitig einen Hinweis auf die Zukunft gibt: "Die Politiker haben uns damals betrogen, aber durch die Revolution wissen die jetzt, dass wir uns das nicht noch mal gefallen lassen werden."