Fünf vor 8:00: Ein progressives Plädoyer für Friedrich Merz - Die Morgenkolumne heute von Mark Schieritz

 
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FÜNF VOR 8:00
05.11.2018
 
 
 
   
 
Ein progressives Plädoyer für Friedrich Merz
 
Ein konservativer Finanzmann will CDU-Chef werden und früher oder später wohl auch Bundeskanzler. Das kann man auch als Linker gut finden.
VON MARK SCHIERITZ
 
   
 
 
   
 
   

Als ich am vergangenen Montag von der Kandidatur von Friedrich Merz für den CDU-Vorsitz erfuhr, fühlte ich mich in die Nullerjahre zurückversetzt: Steuererklärungen auf dem Bierdeckel, Standortwettbewerb, Lohnnebenkosten. Das waren die Schlagwörter der Schlachten, die man damals Sonntag für Sonntag bei Sabine Christiansen ausgefochten hat (für die Jüngeren: die Anne Will von damals, als noch nicht inflationär auf allen Kanälen getalkt wurde).
 
Ich war damals mit Merz inhaltlich selten einer Meinung. Auf einem Bierdeckel beispielsweise kann man vielleicht die Steuerangelegenheiten einer Agrargesellschaft regeln. Eine hoch entwickelte Industrienation wie Deutschland dagegen benötigt auch ein hoch entwickeltes Steuersystem, unter anderem, damit es einigermaßen gerecht zugeht.
 
Heute kann ich der Kandidatur Friedrich Merz' einiges abgewinnen – und das liegt nicht daran, dass ich meine Meinung geändert hätte.
 
Klar scheint: Es geht nicht nur um die Führungsrolle in der Union. Merz will CDU-Chef werden, weil er lieber früher als später auch Kanzler werden will. Und ein Kanzlerkandidat Friedrich Merz ist vielleicht genau das, was das politische System der Bundesrepublik Deutschland braucht, um jene Umwälzungen zu vermeiden, die die Parteienlandschaften in anderen Staaten gerade durchleben.
 
Die CDU wird nach rechts rücken
 
Und: Selbst wenn Merz sich nun von seiner sozialen Seite zeigt, ist er ein Konservativer. Unter seiner Führung wird die CDU unweigerlich nach rechts rücken. Sie wird vor allem wirtschaftsliberaler und unternehmerfreundlicher werden. Ich halte es beispielsweise für unvorstellbar, dass Merz einem Mindestlohn von zwölf Euro oder einer Rentengarantie bis 2040 zustimmen würde. Oder einer Verlängerung des Solidaritätszuschlags für die oberen zehn Prozent der Einkommensbezieher (für die restlichen 90 Prozent soll er bereits in dieser Legislaturperiode abgeschafft werden), um damit die Bildungspläne zu finanzieren.
 
Der Konservatismus des Friedrich Merz ist aber eingebettet in die Traditionen des bundesrepublikanischen Staatsverständnisses. Merz hat Merkels Flüchtlingspolitik zwar kritisiert (wer hat das inzwischen nicht), aber keine Ressentiments geschürt. Als Wirtschaftsmann weiß er ohnehin, dass Deutschland auf Zuwanderung angewiesen ist.
 
Er hat auch die Europapolitik von Merkel angegriffen, aber er ist kein Euroskeptiker. Interessanterweise hat er, wenige Tage bevor er seine Kandidatur erklärte, einen parteiübergreifenden Aufruf unterschrieben, der mehr "Solidarität" in Europa und sogar eine "gemeinsame Arbeitsmarktpolitik bis hin zu einer europäischen Arbeitslosenversicherung" einfordert.
 
Merz braucht die Argumente des rechten Rands nicht
 
Anders gesagt: Als Konservativer ist Merz aus sich selbst heraus schon so glaubwürdig, dass er – ähnlich wie Wolfgang Schäuble – nicht auf Argumentationsfiguren des rechten Rands zurückgreifen muss, um sich zu profilieren. Das gilt nicht unbedingt für alle Kandidaten, die jetzt Merkels Erbe antreten wollen.
 
Damit könnte sich aus einer Kandidatur von Friedrich Merz eine spannende politische Dynamik entwickeln: Die CDU konzentriert sich stärker auf ihre Kernwählerschaft, und macht damit Raum frei für die SPD und zum Teil auch für die Grünen. Das ist nicht in erster Linie quantitativ, also im Sinne einer Verschiebung von Wähleranteilen, zu verstehen. Viel wichtiger wäre die qualitative Dimension dieser Operation. Mit Merz an der Spitze würde in Deutschland wahrscheinlich wieder mit neuer Leidenschaft über Steuern, Rente und den Sozialstaat gestritten.

Für das Land könnte sich das als heilsam erweisen. Die Gräben in der Gesellschaft sind auch deshalb so groß, weil die politische Energie mangels anderer Entladungspunkte praktisch ungehindert die Diskussion um Flüchtlinge oder Target-Salden befeuert hat. Oft ohne jeden Bezug zur Realität, wie aktuell die absurde Diskussion um den Migrationspakt der Vereinten Nationen zeigt. Laut AfD ermöglicht er "allen Migranten den Weg nach Deutschland", obwohl er rechtlich betrachtet zu nichts verpflichtet. Mit einer erneuerten CDU könnte es gelingen, diese Energie in produktivere Themenfelder umzuleiten. Man muss sicher auch über Flüchtlinge reden, aber nicht ausschließlich und immerzu.
 
Noch ist das Rennen offen, erst im Dezember soll Merkels Nachfolger oder Nachfolgerin gekürt werden. Aber danach könnte es durchaus schnell gehen. Und ein Bundestagswahlkampf mit Friedrich Merz, Olaf Scholz und Robert Habeck als Spitzenkandidaten wäre nicht uninteressant.

 


 
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