Eigentlich ist der russische Mann arm dran. Was er nicht alles sein soll – Ernährer, Verteidiger, Kämpfer, Retter, Kerl, Macher, Bewahrer, Absicherer, Draufgänger, Eroberer. "Ein echter Mann muss es immer versuchen, ein echtes Mädchen sich immer zieren" – das meint Wladimir Putin, der manchmal Tiger erschießt, taucht, schwimmt, Eishockey spielt, den Gegner beim Judo aufs Kreuz legt und mit nacktem Oberkörper Hechte angelt.
Putin sagte auch, als der frühere Präsident Israels der mehrfachen Vergewaltigung beschuldigt wurde: "Grüßt euren Präsidenten! Er hat sich als ein starker Kerl gezeigt, zehn Frauen hat er vergewaltigt. Das hätte ich nie von ihm gedacht! Er hat uns alle überrascht, wir beneiden ihn sehr!"
Ist das noch ein Patriarchat, schon institutionalisierter Machismo oder was sonst? Jedenfalls gibt es wenig Gründe, in Russland um die Männer in Sorge zu sein, außer einem: Ihre Männlichkeit macht sie krank. Anders gesagt: Es ist nicht neu, dass Sexismus für Frauen ein Problem ist – aber er ist auch für Männer gefährlich.
Männer sterben in Russland statistisch sehr viel früher als Frauen. Nirgendwo auf der Welt ist die Kluft zwischen der männlichen und weiblichen Lebenserwartung größer: elf Jahre. Alkohol, Gewalt, Selbsttötungen, Verkehrsunfälle – das eigentlich bemerkenswerte aber ist, dass es niemanden so richtig zu kümmern scheint, wie es um den russischen Mann steht. Wer daran Zweifel hat, muss sich nur die neue Rentenreform anschauen.
Frauen konnten in Russland bisher mit 55 Jahren in Rente gehen, Männer mit 60 Jahren. Im Sommer beschloss die russische Regierung, das Alter für den Renteneintritt anzuheben: Männer und Frauen sollten künftig gleichzeitig mit 65 Jahren in Rente gehen. Nach wochenlangen Protesten und fallenden Beliebtheitswerten lenkte Wladimir Putin ein: Künftig dürfen Frauen doch schon mit 60 Jahren aufhören zu arbeiten. "In diesem Land haben wir eine besonders fürsorgliche Haltung den Frauen gegenüber", begründete Putin den Schritt.
Und die Männer? Arbeiten, bis sie 65 sind, wenn sie nicht vorher tot umfallen. Dass Männer viel früher sterben als Frauen, ist aber kein Grund, nach Gleichberechtigung zu rufen. Im Gegenteil: Seit der konservativen Wende von Wladimir Putin im Jahr 2012 werden die Geschlechterrollen gestärkt und geopolitisiert – die Gesetze, die das Aufklären über Homosexualität sanktionieren, Schläge daheim aber dekriminalisieren, sind ein Ausdruck davon. Im Westen mögen Frauen Feministinnen (in Russland noch immer ein verbreitetes Schimpfwort) oder homosexuelle Ehen erlaubt sein, mag der Griff an den Po oder die Einladung eines Filmregisseurs aufs Zimmer als Belästigung gelten – im orthodoxen Osten dagegen ist die Frau eben noch Frau, der Mann noch Mann und die Familie noch Familie.
Dabei hat die Wirklichkeit diese Propaganda längst widerlegt. Wenn die Krise ausbricht, schlägt die Stunde der Frau. Sie krempelt die Ärmel hoch, mit manikürten Nägeln natürlich und darauf bestehend, dass man ihr die Tür aufhält. Wuppt die Familie und manchmal gar das ganze Land – wie in den Neunzigerjahren, als die Männer an den Umbrüchen und Veränderungen scheiterten. Oder, wie mir vor Jahren eine Standesbeamtin in Sibirien ernüchtert von ihrer Arbeit erzählte: "Die russischen Frauen müssen alles können und am besten Superwoman sein!" Und die Männer? "Sie kennen doch unsere Männer! Sie wollen von dem Geld der Ehefrau leben. Was sie natürlich nie tun würden, wenn sie echte Männer wären."
Der echte Kerl murrt vielleicht mal
Der echte Mann ist in Russland in seiner überzeichneten Form der Muschik, ein ganzer Kerl. Muschiki müssen nicht zwingend gut aussehen oder durchtrainiert sein, aber sie müssen stark und in der Lage sein, ihr Recht mit Fäusten zu verteidigen. Müssen jagen, angeln, Wodka trinken und sich bei schwachsinnigem Kräftemessen beweisen. Eigentlich ist der Muschik eine bedrohte Spezies, die dem Städter, zumal dem jüngeren, immer suspekter wird – aber ein Funke von diesem toxischen Männlichkeitsanspruch bleibt eben doch noch. Der Staat macht es ja vor.
456 Berufe gibt es in Russland, die heute für Frauen gesetzlich verboten sind. Frauen dürfen nicht bei der Feuerwehr sein und nicht als Schiffskapitänin arbeiten, sie dürfen nicht Stahl schöpfen, nicht Fernbusse fahren oder Lkw oder U-Bahnen. Erdacht wurde die Verbotsliste in der ach so gleichberechtigten Sowjetzeit, in der Frauen übrigens kein Fußball spielen durften. Die Berufe waren angeblich zu schwer für Frauen. Die Sorge galt allerdings mehr der Gebärmutter als der Frau: Ihre Reproduktionsfähigkeit sollte nicht leiden.
27 Jahre nach dem Untergang der Sowjetunion könnte man sich zu der Schlussfolgerung durchringen, dass Frauen selbst entscheiden können, ob und wie sie ihre Gesundheit ruinieren wollen. Oder dass die Arbeitsbedingungen dringend verbessert werden müssten, wenn es so schlimm um sie steht. Der Staat nehme es hin, kritisieren Gewerkschaftler, dass die Gesundheit von Männern ruiniert werde: Solange keine Frauen angestellt werden, werde auch nicht modernisiert. Woraus umgekehrt folgt: Die Gesundheit von Männern ist eben nicht so wichtig wie die von Frauen.
Das ließe sich verändern, aber dafür müssten die konservativen, patriarchalen Normen hinterfragt werden, die geschmeidig den Widerspruch auflösen, die Frau kleinzuhalten und zugleich zu überhöhen. So zahlt für das Leben in dieser toxischen Männlichkeit am Ende auch der echte Kerl den Preis. Der murrt vielleicht mal, würde sich aber nie beklagen.