10 nach 8: Ramona Raabe über #MeToo

 
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05.10.2018
 
 
 
 
10 nach 8


Weg mit dem Weglächeln
 
Dunkelfeldstudien zeigen, dass die Mehrzahl aller sexuellen Übergriffe nicht zur Anzeige gebracht wird. Wir Frauen müssen den Mut haben, diese Statistiken zu korrigieren.
VON RAMONA RAABE

Frauen wird noch immer anerzogen, dass es besser für sie ist, eine gute Mine zum bösen Spiel zu machen. © Tanja Heffner/unsplash.com
 
Frauen wird noch immer anerzogen, dass es besser für sie ist, eine gute Mine zum bösen Spiel zu machen. © Tanja Heffner/unsplash.com
 
 

Nachdem Brett Kavanaugh, der Anwärter auf das Richteramt am amerikanischen Supreme Court, der versuchten Vergewaltigung auf einer Studierendenparty in den Achtzigerjahren beschuldigt wurde, fällt dem US-Präsidenten nichts Besseres ein, als das mutmaßliche Opfer zu diskreditieren: Sollten diese Vorwürfe stimmen, dann hätten Christine Blasey Ford oder "ihre liebenden Eltern" ja wohl schon vor 36 Jahren Anzeige erstattet , twitterte Donald Trump.

Eine in mehrerlei Hinsicht stumpfsinnige Äußerung, auch aufgrund ihrer Ignoranz: Es ist allgemein bekannt, dass ein unverhältnismäßig hoher Anteil von Sexualdelikten nicht zur Anzeige kommt. Ganz abgesehen von Fällen, die sich kaum melden lassen. In Deutschland gelten erst seit 2016 unerwünschte Intimberührungen, die den Überraschungsmoment ausnutzen, umgangssprachlich Grapschen, als Delikte gegen die sexuelle Selbstbestimmung. Diese Gesetzesänderung ermöglicht es uns Frauen heute, Übergriffe ans Licht zu bringen, die zuvor zwangsläufig im Dunklen blieben. Jetzt liegt es an uns, diese Möglichkeit zu nutzen.

Seit einem Abend in diesem Berliner Juli frage ich mich, ob das allerdings wirklich so einfach ist: Ich lief gerade die Treppe zur U-Bahn hinunter, als plötzlich eine Hand unter mein Kleid huschte und meinen Innenschenkel fasste. Noch bevor ich realisierte, was passiert war, war sie auch schon wieder weg. Und der Typ auch. Instinktiv brüllte ich laut auf – der Mann, der mich betatscht hatte und den ich nur noch im Seitenprofil sah, reagierte nicht.

Anders als im Internet, Epizentrum simulierter oder zumindest retardierter Schlagfertigkeit, müssen wir in der Realität häufig schnell reagieren, wenn uns jemand Unrecht zugefügt hat. Zu intervenieren würde bedeuten, sich augenblicklich zu positionieren und die notwendigen Konsequenzen zu ziehen. Bei sexueller Belästigung hieße das, eine erfolgte Straftat wie jede andere zu behandeln. Doch das tun wir in der Regel nicht, wie Dunkelfeldstudien immer wieder aufweisen. Die Süddeutsche Zeitung berichtet darüber in einem bildhaften Vergleich: Im Bundesland Niedersachsen wurden 2014 nur sieben Prozent der erfolgten Sexualdelikte angezeigt – aber 94 Prozent der Autodiebstähle. Wieso, frage ich mich, sollten Fahrzeuge schützenswerter sein als unsere Körper? Laut der jüngsten Berliner Kriminalstatistik beträgt der Anteil von Delikten gegen die sexuelle Selbstbestimmung an allen erfassten Straftaten nur 0,7 Prozent.

Weil ich kurz davor war, diesen Vorfall auf der U-Bahn-Treppe einfach nur als widerlich, aber "nicht weiter wichtig" abzutun, hätte ich beinahe selbst dazu beigetragen, dass diese Werte so niedrig sind. Als mir das auffiel, spürte ich eine solidarische Verantwortung, zu der Richtigkeit dieser Daten beizutragen, diese Form der Übergriffe statistisch und damit öffentlich sichtbar zu machen. Ich erstattete also am nächsten Tag Anzeige – gegen unbekannt. In meinem Freundeskreis reagierten ausnahmslos alle mit sofortiger Zustimmung: "Jawohl" und "Richtig so". Meine Entscheidung bekräftigten unter anderem dieselben Frauen, die ähnliches auch schon erfahren, aber bislang "nur" mit passiver Empörung reagiert hatten. Es scheint also ein paradoxer Konsens darin zu bestehen, dass sexuelle Belästigung einerseits am besten zur Anzeige gebracht werden sollte, während sich die Betroffenen am Ende des Tages dann doch lieber zurückhalten. Woran liegt das?

Unter dem Hashtag #ichhabenichtangezeigtweil startete 2012 ein Münchener Kommunikationszentrum ein Projekt, das nach ebendiesen Gründen fragte. Ähnliche Initiativen hatte es zuvor in Schweden, England und Frankreich gegeben und im Zuge der Kavanaugh-Affäre aktuell wieder in den USA (#whyIdidntreport). Die Begründungen sind vielfältig: Scham, Schuldgefühle seitens des Opfers, Überforderung mit der Situation. Angst, Hoffnungslosigkeit oder Befangenheit – in den meisten Fällen handelt es sich bei dem Täter um einen Bekannten, Freund oder ein Familienmitglied, den eigenen Partner.

Sexualdelikte und die individuelle Reaktion darauf können nicht pauschalisiert werden. Sie sollten stets so differenziert betrachtet werden wie die Menschen, die sie erleben. Insbesondere bei sexualisierter Gewalt kann es aufgrund der möglicherweise traumatischen Erfahrung weitere persönliche Gründe geben, die eine Anzeige erschweren. Donald Trumps Kommentar zur Kavanaugh-Affäre verhöhnt alle Betroffenen, die schwer Formulierbares ertragen mussten und daher bis heute schweigen. Es gibt Kliniken, in denen Frauen nach einer Vergewaltigung untersucht werden und die Möglichkeit haben, DNS-Proben des Täters sichern zu lassen, ohne sich damit automatisch für eine Anzeige zu entscheiden. Manche Häuser bewahren die Probe bis zu einem Jahr nach der Tat auf, sodass anfängliches Zurückschrecken vor juristischen Maßnahmen eine Untersuchung und Spurensicherung nicht verhindern muss. Ein wichtiges und empathisches Angebot.

Jede zweite Frau macht Belästigungserfahrungen

Dass wir Frauen auf Sexualdelikte vergleichsweise vorsichtig reagieren, hängt auch mit einer tief verinnerlichten Einstellung zusammen: einer euphemistischen Bagatellisierung, nicht selten von uns selbst betrieben. Dabei sollten gerade Frauen wissen, dass dieses Denken sozial erlernt ist: Es ist Ergebnis eines Anpassungstrainings an eine Welt, die männliche Bedürfnisse in den Vordergrund stellt. Wir wurden zu Meisterinnen des Erduldens gemacht. Diese Marginalisierung weiblicher Erfahrungen hat schon früh eine Stimme in Mädchen kultiviert, die ihnen selbstschädigende Pseudoerkenntnisse zuflüstert, in der trügerisch beruhigenden Stimme harmoniesüchtiger Verdrängung: War doch nicht so schlimm; So sind sie halt manchmal, die Jungs; Stell dich nicht so an . Derartige Verniedlichungen und Zurechtweisungen schützen auch unser eigenes Selbstbild in einem Bereich, in dem Frauen besser nicht zu laut werden. Anstelle von Verständnis erfahren sie oft genug Aggression: Christine Blaisey Ford erhielt Hassnachrichten und Morddrohungen, musste aus Sicherheitsgründen ihr Zuhause verlassen .

Im Schweigen nistet die Scham. Es ist schlichtweg unangenehm, über sexuelle Belästigung zu sprechen, auch jetzt noch, wo wir mittlerweile wissen, dass allein in Deutschland etwa jede zweite Frau damit Erfahrungen macht . Auch das Verfassen dieses Beitrags empfinde ich als unangenehm. Doch diese Art der Scham ist toxisch. Sie verbannt das Erlebte und Bedrückende in eine Sperrzone, in der es zwar nicht vergessen, aber gelähmt wird. So bleibt die Scham stumm und schwer – vielleicht erst klein, aber sie wächst mit jedem tolerierten Übergriff und wird immer mächtiger. Im schlimmsten Fall schafft sie es, die Grenzen des Zulässigen auch dann noch zu dehnen, wenn diese längst überschritten wurden.

Weg mit dem Weglächeln, darin waren wir uns doch einig. Wenn wir uns allerdings nur aufregen, im Internet oder auf der Betriebsfeier, aber nicht die rechtlichen Konsequenzen ziehen – lächeln wir dann nicht eigentlich weiter? Geben wir der Scham dann nicht immer mehr Raum, halten und versorgen sie in der Hinterkammer unserer Identität, lichtgeschützt von den Fassaden, die wir aufziehen?

Sachlicher Raum für die Unschuldsvermutung

Zu meiner Überraschung fiel auch mir, die rational keinen Zweifel an der Straffälligkeit dieser Berührung hatte und die glaubte, mittlerweile selbstbewusst gegen Sexismus anzugehen, der Gang zur Wache schwer. Ich wollte mich mit dem Vorfall nicht weiter konfrontieren und kurioserweise auch niemanden "stören". Da war sie wieder, die Stimme: Lass mal die Kirche im Dorf. – So was passiert halt mal. – Anderen geschieht viel Schlimmeres . Bei der Polizei gab mir dann niemand das Gefühl, zu stören. Stattdessen wurde mir ein ruhiger Aufenthaltsraum angeboten und ich wurde von dem Beamten gefragt, ob ich lieber mit einer Kollegin sprechen wolle.

Klar: PolizistInnen sind nicht gerade AnsprechpartnerInnen, denen man sich in heimeliger Atmosphäre vertraulich öffnet. Der Vorfall bekommt stattdessen einen hochoffiziellen Charakter, ein öffentliches, grau-steriles Zu-den-Akten-Setting. Doch wer begründet Anzeige erstattet, landet in diesen Akten nicht als Opfer, sondern als Akteurin. Sie übergibt die Urteilsverantwortlichkeit in die dafür ausgebildeten Hände und lässt sachlichen Raum für die Unschuldsvermutung.

In meinem Fall läuft das Verfahren noch. Möglicherweise erhalte ich demnächst die Mitteilung, dass es eingestellt wurde. Doch unabhängig vom Ausgang habe ich eine sexuelle Belästigung konsequent mit der Ernsthaftigkeit behandelt, die ihr als Delikt zuteil werden sollte. Und darauf kommt es an. Niemand wünscht sich viele Strafanzeigen – am liebsten wäre uns wohl allen eine Welt, in der es überhaupt keine mehr geben müsste. Bis dahin brauchen wir aber ein möglichst realistisches Abbild in den statistischen Erfassungen und eine Gesellschaft, in der zugefügtes Unrecht nicht nur nicht verschwiegen, sondern auch sanktioniert wird. Ein System, in dem sich niemand dafür schämt, dass ein Unrecht an ihm oder ihr begangen wurde. Und eine Justiz, die ihrem Namen gerecht wird.


Damit wir uns nicht falsch verstehen: Die Grenze verläuft nicht zwischen Frau und Mann, sondern zwischen Recht und Unrecht. Auch Männer sind betroffen und auch sie mögen Gründe haben, die sie von einer Anzeigenerstattung abhalten. Das kann man anerkennen, ohne abzustreiten, dass Frauen aller Gesellschaftsschichten weltweit auf systematisch unterdrückende Weise sexuelle Belästigung erfahren. Dasselbe lässt sich von Männern nun einmal nicht sagen. Etwa 90 Prozent der Betroffenen sind – laut Statistik – weiblich.

Ramona Raabe, Jahrgang 1992, ist Schriftstellerin. Sie studiert Film- und Literaturwissenschaft in Berlin und Los Angeles. Im März 2018 erschien ihr literarisches Debüt "Das pathologische Leiden der Bella Jolie" im Dittrich Verlag. Ramona Raabe ist Gastautorin bei "10 nach 8".


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