Fünf vor 8:00: Moon Jae-in ist nicht zu beneiden - Die Morgenkolumne heute von Theo Sommer

 
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FÜNF VOR 8:00
09.01.2018
 
 
 
   
 
Moon Jae-in ist nicht zu beneiden
 
Weniger Spannung mit dem Regime im Norden, das käme Südkorea sehr entgegen. Die atomare Bedrohung mag erschreckend sein, aber das Land hat noch ganz andere Sorgen.
VON THEO SOMMER
 
   
 
 
   
 
   
Die Welt tut gut daran, in den ersten acht Wochen des neuen Jahres auf die koreanische Halbinsel zu blicken. In nächster Zeit erscheint derzeit alles möglich: olympischer Jubel, Entspannung zwischen den feindlichen Brüdern in Nord und Süd, krisenhafte Zuspitzung ihres Verhältnisses – oder sogar Donald Trumps fire and fury, ein Atomkrieg, ausgelöst aus Wut und pubertärer Prahlerei.
 
Südkoreas sozialliberaler Präsident Moon Jae-in, seit knapp sieben Monaten im Amt, findet sich im Auge eines geopolitischen Sturms; das Atom- und Raketenprogramm des feisten Jungdiktators Kim Jong-un in Pjöngjang hat eine Weltkrise ausgelöst. In einem Land, das ohnehin voller Spannungen und Spaltungen steckt, zwischen links und rechts, Regionen und Generationen, hat er nach der Amtsenthebung der Präsidentin Park Geun-hye einen innenpolitischen Scherbenhaufen geerbt; nun muss er sich ans Kitten machen. Schließlich muss er Südkorea, Asiens drittgrößte Volkswirtschaft, nicht nur aus einer ökonomischen Flaute herausführen, sondern auch das durch chronische Bestechungsskandale diskreditierte Chaebol-System, in dem zehn familiengeführte Großkonzerne alles beherrschenden Einfluss haben, einer überfälligen Reform unterziehen, ohne das Fundament von Koreas wirtschaftlichem Erfolg zu zertrümmern.
 
Mitten in den verschärften Konflikt um Nordkoreas Nuklearwaffenprogramm platzte die Ankündigung Kim Jong Uns in seiner Neujahrsansprache, er werde gern eine nordkoreanische Mannschaft zu den Mitte Februar beginnenden Olympischen Winterspielen im südkoreanischen Pjönjang entsenden, wozu ihn Moon verschiedentlich aufgefordert hatte. Gekoppelt daran war ein Gesprächsangebot: "Beide Koreas können sich sofort treffen." Seoul ging umgehend darauf ein, und schon morgen werden sich die Vertreter des seit 1945 gespaltenen Landes in Panmunjeom gegenübersitzen – zum ersten Mal seit zwei Jahren.
 
Zunächst einmal wird es in erster Linie um die Formalitäten der Olympia-Teilnahme des Nordens gehen. Es wäre keine absolute Neuerung. Auch früher schon – in Sydney, Athen, bei der Fußballweltmeisterschaft in Seoul – waren die Nordkoreaner dabei. Zweimal marschierten die Athleten aus Nord und Süd sogar gemeinsam ein; in Athen trugen sie ein Banner "Korea ist eins". Dass sich aus dem Treffen an den Hängen und Pisten von Jungbon auch eine weitgehende Annäherung, gar eine Aussöhnung der beiden Koreas ergeben wird, darf allerdings bezweifelt werden. Kims Neujahrsankündigungen haben sich schon zu oft als folgenloses Wortgeplänkel erwiesen. Auch wird er den Teufel tun und seine Atomwaffen wieder aufgeben; er sieht in ihnen seine Lebensversicherung.
 
"Trump macht einen gravierenden Fehler"
 
Umgekehrt wird auch der auf einen koreanischen Ausgleich bedachte Moon Jae-in den militärischen Schutz Amerikas nicht preisgeben wollen. Allerdings hat er durch sein Eingehen auf Kim seinen Spielraum in einer Weise erweitert, die Washington ziemlich an den Rand des Geschehens rückte. Da mag Trump noch so oft Krieg androhen (und jetzt die überraschende Annäherung von Seoul und Pjöngjang seinen Twitter-Gewittern zuschreiben) – Moon hat ihm fürs Erste das Ruder aus der Hand genommen. Trump musste einer Verschiebung der gemeinsamen Militärmanöver zustimmen, um die Winterspiele nicht zu gefährden. Und er kann, sofern Kim nicht wieder ins Manisch-Provokative verfällt, etwa während der Olympischen Spiele neue Atomtests und Raketenversuche unternimmt, auch direkten Gesprächen nicht mehr aus dem Weg gehen. Wie die New York Times schrieb: "Trump macht einen gravierenden Fehler, wenn er es zulässt, dass das Verhältnis zu Südkorea sich verschlechtert, und er sich allein auf die Androhung militärischer Gewalt und auf Sanktionen verlässt, um der nordkoreanischen Bedrohung entgegenzutreten."
 
Ein Spannungsabbau auf der koreanischen Halbinsel würde es Präsident Moon Jae-in erlauben, sich einem Problem zu widmen, mit dem noch keiner seiner Vorgänger fertig geworden ist: der Reform des Chaebol-Kapitalismus.
 
Chaebol heißt auf Koreanisch: "Reiche Sippen", tatsächlich sind es vor allem ein Dutzend reiche Sippen, deren Familienunternehmen die koreanische Wirtschaft prägen und beherrschen. Fünf dieser Mischkonzerne – Samsung, Hyundai, SK, LG und Lotte – erbringen die Hälfte der nationalen Wirtschaftsleistung. Sie erhoben sich vor über sechzig Jahren aus der Asche, die der Koreakrieg hinterlassen hatte. Die Regierung bot damals Geschäftsleuten, die versprachen, das Land wieder aufzubauen, billige Kredite, schützte sie vor ausländischer Konkurrenz und ließ sie zu Giganten heranwachsen, die auf dem Weltmarkt Fuß fassten. Daraus ergab sich eine enge Verflochtenheit von Politik und Wirtschaft.

Die koreanische Kultur ist eine Kultur, in der man auch im privaten Leben einander stets Gefälligkeiten erweist. Im Verhältnis von Staat und Wirtschaft war das nicht anders. Dabei wurde aus Gefälligkeiten Korruption. Die Wirtschaft kaufte sich die Politik, die Politik zwang die Wirtschaft zu "freiwilligen" Zahlungen; eine Hand wusch die andere. Immer wieder gab es Ansätze zu Reformen: Die Chaebol mussten ihre Banken abgeben; zeitweise wurden ihre Investitionsetats begrenzt, damit sie nicht immer größer wurden; auch wurden sie angehalten, kleine und mittelständische Firmen wachsen zu lassen.
 
An der Grundsituation änderte sich nichts. Eine ganze Reihe von Chaebol-Chefs wurde wegen Korruption verurteilt, doch wurden sie alle bisher routinemäßig begnadigt. Alle Präsidenten beugten sich der Einsicht, dass die Unternehmen nicht beschädigt werden dürften, die Koreas Weltstellung verbürgten. Auch wurden sie gebraucht, um das Land aus wiederkehrenden Wirtschaftskrisen herauszuführen.
 
Unter Präsidentin Park – deren Vater einst die Chaebol groß machte, um das "Wirtschaftswunder am Han" zu starten – kam es zum Eklat. Die Präsidentin hatte eine langjährige Vertraute, Choi Soon-il. Die Hamburger würden sie eine Spökenkiekerin nennen, Historiker könnten sie als weiblichen Rasputin bezeichnen. Ihr Vater war der Anführer eines obskuren Schamanenkults. Ihr räumte die Präsidentin großen Einfluss auf die Regierungsgeschäfte ein. Choi wirtschaftete kräftig in die eigene Tasche. So verlangte sie von mehreren Großkonzernen Spenden, angeblich für eine Kultur- und eine Sporthilfe-Stiftung, in Wahrheit jedoch für ihre Privatschatulle.
 
Nicht von ungefähr unterstützte Präsidentin Park das Anliegen ihrer grauen Eminenz, indem sie neun Chaebol-Chefs ermahnte, etwas für den Sport, die Kultur und den Fremdenverkehr zu tun. Sie beeilten sich, ihr Folge zu leisten und schanzten Choi Soon-il 72 Millionen Euro zu. Sechs Millionen gingen an die Tochter Chois für ihre Ausbildung als Dressurreiterin; Samsung schenkte ihr ein Pferd im Wert von 800.000 Euro, mit dem sie 2020 in Tokio bei den Olympischen Spielen antreten will. "In Korea ist es schwer, sich als Wirtschaftsführer den Ansinnen der Regierung zu verweigern", erläuterte die Federation of Korean Industries, der koreanische BDI.
 
Für ein ganzes System im Gefängnis
 
Von den 72 Millionen Schmiergeld kamen 34 Millionen aus den Kassen von Samsung. Samsung ist ein Weltunternehmen, das in 170 Tochterfirmen rund um den Globus 500.000 Menschen beschäftigt. Auf der Forbes-Liste der Tech-Unternehmen nimmt es den zweiten Platz ein. Es produziert bis auf Autos so gut wie alles: Haushaltsgeräte, Fernseher, Smartphones vor allem und Halbleiter. Der Umsatz belief sich 2017 auf 174 Milliarden Dollar, der Gewinn auf 19 Milliarden, das Vermögen auf 270 Milliarden. Samsungs überragende Stellung in der koreanischen Wirtschaft lässt sich an zwei Zahlen ablesen: Es erwirtschaftet 18 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, und ein Fünftel der Exporte geht auf sein Konto. (Zum Vergleich Siemens: Umsatz 83 Milliarden Euro, Gewinn 6,2 Milliarden, BIP-Anteil: 2,3 Prozent).
 
Samsungs 76-jähriger Präsident Lee Kun-hee liegt seit einem Herzinfarkt im Jahr 2014 im Koma. Sein Sohn Lee Jae-yong führt seitdem die Geschäfte – seit fast einem Jahr, allerdings aus einer Einzelzelle im Gefängnis. Er war wegen Bestechung, Unterschlagung und Meineid zu fünf Jahren Haft verurteilt worden. Der Grund: Er habe durch seine Zahlung an Madame Choi die Zustimmung des staatlichen Pensionsfonds zur Fusion zweier Gruppen von Firmen erlangt und damit, obwohl die Lee-Familie nur eine Aktienminderheit besitzt, seine absolute Führungsstellung zementiert (und damit auch die 50-prozentige Erbschaftsteuer zu umgehen versucht). Der 49-Jährige hat immer abgestritten, dass er irgendeine Gegenleistung erwartet und diese im Gespräch mit der Präsidentin erwirkt habe. Die erste Instanz hielt die Beweise auch für unzureichend, aber nun sitzt er. Und er sitzt für ein ganzes System, in dem er seine Wurzeln hat. Ein politischer Prozess also? Die Frage stellt sich, ob es dabei wirklich um Recht und Gerechtigkeit geht oder doch eher darum, einen Sündenbock, ein Symbol politisch zu vernichten.
 
Die Koreaner sind wie immer gespalten. Die Chaebol-kritische Linke ist für Lees maximale Bestrafung. Hingegen findet die Rechte, dass er zum Sündenbock gemacht wird, um eine Höchststrafe für die amtsenthobene Präsidentin zu rechtfertigen.
 
Schwierig, aber nicht hoffnungslos
 
Präsident Moon Jae-in ist nicht zu beneiden. Wie schon manche seiner Vorgänger ist er mit dem Vorsatz angetreten, die Chaebols an die Leine zu legen. Doch auch er braucht sie, um aus der gegenwärtigen Wirtschaftskrise herauszukommen. Er muss sie reformieren, ohne sie zu destabilisieren. Er weiß: Nur sie können Jobs für die arbeitslose Jugend – 12,5 Prozent! – schaffen. Und auch er ist sich darüber im Klaren: Ein Führungsvakuum in den Großkonzernen könnte Südkorea mitten in der Wirtschaftskrise böse zurückwerfen.
 
So wird er wohl versuchen, die Chaebol dem Gesetz zu unterwerfen und sie auf ihre gesellschaftliche Verantwortung festzulegen; den Familien-Einfluss zu begrenzen durch Verstärkung des professionellen Managements; die Rechte der Aktieninhaber zu erhöhen; die Eigentumsverhältnisse transparent zu machen; und die kleineren und mittleren Unternehmen zu unterstützen, anstatt sie einfach aufzusaugen. Vielleicht wird er auch die Unternehmensteuern erhöhen, dafür aber die 50-prozentige Erbschaftsteuer, die zur Umgehung einlädt, absenken oder ganz abschaffen. Aus seiner Gefängniszelle hat Lee Jae-yong übrigens schon einiges in Richtung Reform angeordnet. Das Vorhaben, die korrupte Sonderbeziehung zwischen Politik und Großkonzernen aufzubrechen, ist schwierig, aber nicht hoffnungslos.
 
Zunächst jedoch wird Moon alles daran setzen, die Olympischen Winterspiele friedlich und erfolgreich hinter sich zu bringen, die Entspannung im gespaltenen Land der Morgenröte voranzutreiben, Verhandlungen über das nordkoreanische Atomwaffenprogramm anzubahnen und, vor allen Dingen, Donald Trump daran zu hindern, doch noch einen Krieg vom Zaun zu brechen.
   
 
   
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Fünf vor 8:00 ist die Morgenkolumne von ZEIT ONLINE. An jedem Werktag kommentieren abwechselnd unter anderem Michael Thumann, Theo Sommer, Alice Bota, Matthias Naß, Martin Klingst und Jochen Bittner.