Fünf vor 8:00: Nach Moskau, nach Moskau - Die Morgenkolumne heute von Alice Bota

 
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FÜNF VOR 8:00
19.01.2018
 
 
 
   
 
Nach Moskau, nach Moskau
 
Ein guter Vorsatz für das neue Jahr: die russische Hauptstadt besuchen. Und auf dem Weg dorthin in Kiew Halt machen.
VON ALICE BOTA
 
   
 
 
   
 
   
Das Jahr 2017 endete in Moskau mit einem Rekord: Der Dezember, traditionell sowieso dunkel und verhangen, war der dunkelste Monat seit Beginn der Wettermessung. Sechs Minuten Sonne! In 31 Tagen! Macht im Schnitt alle fünf Tage eine Minute, das bekommen selbst zwei Tageslichtlampen nicht ausgeglichen. "Eine erstaunliche Situation", nannte es ein russischer Meteorologe. Mir fallen drastischere Worte zu diesem Elend ein.
 
Was folgt daraus? Fahren Sie nicht im Dezember nach Moskau, aber fahren Sie noch in diesem Jahr! Wegen der WM, trotz der WM! Denn nur wenige Städte dürften sich so rasant verändern wie derzeit Moskau – wer vor zehn Jahren hier war, wird sich heute die Augen reiben. Und wer sich in zehn Jahren aufmacht, wird sehen, wie dynamisch, fantastisch und skrupellos die Entwicklung dieser Stadt ist; wie sie wächst und sich neu zu erfinden sucht.
 
Wenn mich deutsche Bekannte in Moskau besuchen, begegne ich häufig zwei Reaktionen. Die erste kommt noch vor der Reise, als sei Moskau wirklich Mordor: Ist es sicher da? Ja, für westliche Touristen schon, selbst nachts. Kaum angekommen, kaum im innersten Ring der Stadt, folgt die zweite Reaktion: Überwältigung. Wie sauber die Straßen doch sind! Wie cool die zu Clubs und Ateliers umgebauten Fabriken! Wie überbordend die Blumenbeete, wie prächtig die Straßenbeleuchtung! Wie schick die Cafés und Restaurants sind, wie ausufernd die Gehwege, und das da, ist das wirklich ein Fahrradweg?
 
Ja, ist es. Manchmal fahren sogar Leute darauf und es gibt Mieträder. Strafzettel zahlt man hier online, ebenso wie die Parkgebühren, Carsharing ist neuerdings weit verbreitet. Und nachts im Sommer vermieten Leute mitten in der Stadt Pferde. Überhaupt, Moskau im Sommer, wenn der nicht gerade ausfällt, wird es zu einem besonderen Ort: Der Gang der Geschäftigen verlangsamt sich, Paare flanieren am Ufer der Moskwa, Kinder spielen noch um Mitternacht in den Fontänen der Tretjakow-Galerie. Dazu Festivals und Open-Air-Konzerte, Freiluftkino in den Parks, Beachvolleyball im Gorki-Park. Einerseits.
 
Andererseits ist auch das noch immer Moskau: Monumentale Architektur, überbordende Überwachung und Bürokratie, barsche Damen an den Schaltern, spitze Ellenbogen in den Metros – der graue Sozialismus, in dem das Individuum nichts zählen durfte, ist nie gänzlich verschwunden. Heute legt sich das neue Autoritäre darüber. Der Glanz hat viel mit dem Moskauer Bürgermeisters Sergej Sobjanin zu tun. Ihm wurde gar ein neues Verb gewidmet: Sobjanit. Frei übersetzt: zu sobjanieren. Sprich: Moskau zu einer hypermodernen Stadt nach europäischem Vorbild umzubauen, ohne die Bürger zu fragen, was sie davon halten.
 
Bürger? Sind hier Konsumenten oder Unmündige: Da kann es schon passieren, dass die Stadtverwaltung beschließt, die Häuser von mehr als einer Million Moskauer abzureißen und sie umzusiedeln, ohne ihnen zu sagen, wohin und ohne sie zu fragen, ob sie das wollen, ihr Privateigentum hergeben. Erst als es Proteste hagelte, ordnete der Bürgermeister doch noch eine Abstimmung an. Weshalb, nach Moskau gefragt, meine Sätze oft anfangen mit einem begeisterten: Ja! Und weitergehen mit: aber.
 
Ja, Moskau ist eine großartige Stadt, aber sie kann unfassbar zehrend sein. Ja, Moskau entwickelt sich atemberaubend schnell, aber die Kosten dafür zahlen zum Beispiel jene unterbezahlten Gastarbeiter, die im Sommer für neue Fußwege selbst nachts noch Steine schnitten – mit nackten Händen und Flipflops an den Füßen. Ja, Moskau hat großartige Restaurants, aber wer kann sie sich bei den russischen Durchschnittsgehältern schon leisten? Ja, die Parks sind wunderschön, aber sie erinnern mehr an einen Freizeitpark denn an öffentlichen Raum.
 
Die Stadt ist ein Versprechen
 
Und ja, die Moskauer Infrastruktur ist imposant, die jüngst neu gemachten Straßen, die breiten Fußwege, die neu gepflanzten Bäume – aber finanziert wird es mit Geld, das in den Regionen fehlt. Allein für seine beispiellose Weihnachtsbeleuchtung, vor der Touristen mit offenen Mündern stehenbleiben, gibt die Stadt das Jahresbudget mancher russischer Oblast aus – während es ein paar hundert Kilometer von der Hauptstadt entfernt Menschen gibt, die ohne Gas ausharren.
 
Und so bleibt Moskau ein Magnet, weil es ein Versprechen ist. Die Sehnsucht nach der Hauptstadt, die schon an Anton Tschechows drei Schwestern nagte, als sie in der Provinz versauerten, lebt bis heute fort: W Moskwu, w Moskwu, jammerten sie, nach Moskau, nach Moskau! Hier ist Arbeit zu finden, hier ist Geld zu verdienen, hier fangen kleine Karrieren an und blühen große auf, hier zerschellen Biografien und Hoffnungen, weil der Moskauer Traum längst nicht für alle gilt.
 
Mehr als zwölf Millionen Menschen leben offiziell in der Hauptstadt – vermutet werden noch ein paar Millionen mehr. Arbeitsmigranten aus Tadschikistan oder Usbekistan, Russen aus der Provinz, Georgier, Aserbaidschaner und Armenier, die über die langen dunklen Winter fluchen. Aber was nützt einem schon der Sommer in der Heimat, der weder Geld noch Arbeit bringt.
 
Willkommen in Moskau, das ziemlich wenig mit dem Rest von Russland zu tun hat: Die Stadt ist wie ein freischwebender Planet, wunderbar, großartig, skrupellos. Und wenn Sie sich auf den Weg machen: Wie wäre es, auf dem Weg dorthin Halt zu machen in einer der vielen großartigen Städte, die zu oft im Leben überflogen werden? Denn auch das gebe ich den Bekannten immer mit: Ihr wart in Moskau – nun auf nach Kiew.
   
 
   
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Fünf vor 8:00 ist die Morgenkolumne von ZEIT ONLINE. An jedem Werktag kommentieren abwechselnd unter anderem Michael Thumann, Theo Sommer, Alice Bota, Matthias Naß, Martin Klingst und Jochen Bittner.