Fünf vor 8:00: Sehnsucht nach dem Schrebergarten - Die Morgenkolumne heute von Matthias Nass

 
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FÜNF VOR 8:00
24.01.2018
 
 
 
   
 
Sehnsucht nach dem Schrebergarten
 
Die Gegner einer großen Koalition verengen die SPD zu einer Partei der sozialpolitischen Kümmerer. Europa wird für sie zur Nebensache. Welch ein Irrweg.
VON MATTHIAS NASS
 
   
 
 
   
 
   
Ist den Jusos eigentlich klar, dass die Wichtelmützen, mit denen viele von ihnen zum SPD-Parteitag in Bonn anreisten, mehr über ihr Weltbild offenbarten, als ihnen lieb sein kann? Was als selbstironische Persiflage auf den "Zwergenaufstand"-Vorwurf des "blöden Dobrindt" (Andrea Nahles) gedacht war, entpuppte sich, je hitziger der Anti-Groko-Protest wurde, als Sinnbild einer neuen Provinzialität.
 
Denn der Kern dessen, was einer neuen großen Koalition in Berlin ihre Berechtigung und ihre Bedeutung geben könnte, war den Jungsozialisten und den anderen Gegnern einer Koalition mit der Union in der SPD entweder egal, oder es ist ihnen entgangen. Mag jeder entscheiden, was schlimmer ist.
 
Ziel einer künftigen Koalition muss es sein, dem weiteren Abrutschen Europas in Populismus und Nationalismus Einhalt zu gebieten – durch die Bildung einer starken, handlungsfähigen Regierung in Deutschland und durch deren enge Zusammenarbeit mit dem reformfreudigen Frankreich Emmanuel Macrons.
 
Antworten stehen im Sondierungspapier
 
Martin Schulz hat in seiner Rede auf dem Parteitag vor der "rechten Welle" gewarnt, "die durch den Kontinent schwappt". Aber die scheint viele in der SPD nicht zu beunruhigen. Dabei sollte doch gerade den Sozialdemokraten der Ruck nach rechts in Warschau, Prag, Budapest, Wien und demnächst vielleicht in Italien den Schlaf rauben. Haben sie schon vergessen, dass wir noch vor einem Jahr den Sieg Marine Le Pens bei den französischen Präsidentschaftswahlen fürchten mussten? Zum Glück hat dann Macron die Wahl gewonnen.
 
Es ist jetzt vier Monate her, dass Frankreichs Präsident seine große Rede an der Sorbonne gehalten hat. Und die fing mit folgenden Worten an: "Ich bin gekommen, um über Europa zu sprechen. 'Schon wieder', werden einige sagen. Sie werden sich daran gewöhnen müssen, denn ich werde damit weitermachen."
 
Endlich gibt es nun aus Deutschland die Antwort auf Macron, auf die wir viel zu lange warten mussten. Sie findet sich im Sondierungspapier von SPD und Union. Und zwar ganz vorn, als allererstes Kapitel. Darin stehen so viele weitreichende Reformvorschläge, dass der Generalsekretär des konservativen CDU-Wirtschaftsrats, Wolfgang Steiger, vorige Woche entsetzt aufschrie: "Mit dem Europa-Programm wird das Tor weit geöffnet für noch mehr Schulden in Europa." In einem Papier des Wirtschaftsrats heißt es: "Die Union hat in der Europapolitik auf erschreckende Weise das Feld geräumt und folgt einer SPD, die unter 'proeuropäisch' nur mehr Umverteilung in die Krisenländer versteht. (...) Alles erodiert."
 
Vielleicht haben es die Jusos nicht gelesen, weil es in der FAZ stand, oder weil sie gerade Wichtelmützen kaufen gegangen waren.
 
Wer wollte bestreiten, dass die Abschaffung der grundlosen Befristung von Arbeitsverträgen, die Angleichung der Arzthonorare bei gesetzlich und privat Versicherten und – vor allem – eine bessere Härtefallregelung beim Familiennachzug von Flüchtlingen hoch achtenswerte politische Ziele sind. Aber daran die Regierungsbildung scheitern lassen?
 
Es haben hoffentlich viele Parteitagsdelegierte am Montag dieser Woche in den Abendnachrichten gesehen, wie die AfD-Fraktion im Bundestag bei der Feierstunde zum 55. Jahrestag des Élysée-Vertrags mit verschränkten Armen sitzenblieb, als sich alle anderen Abgeordneten erhoben, um dem Präsidenten der französischen Nationalversammlung am Ende seiner Rede die Ehre zu erweisen und zu applaudieren.
 
Nicht die Europagegner stärken
 
Dies ist der neue Stil, der mit den Rechten in unsere Parlamente einzieht. Ihr Ziel ist es, die Europäische Union, wie wir sie kennen, zu zerstören. Eine Nebensache? Oder  vielleicht doch die Hauptsache der kommenden Jahre?
 
Die SPD darf sich nicht verengen zu einer Partei der sozialpolitischen Kümmerer, sie muss auch eine starke außen- und vor allem europapolitische Kraft bleiben. Sie darf den Ehrgeiz nicht verlieren, auch die Verhältnisse außerhalb des eigenen Landes mitgestalten zu wollen.
 
So, wie Willy Brandt einst für seine Ostpolitik gewählt wurde, so müsste Martin Schulz heute in seiner Europapolitik unterstützt werden. Und zwar zuallererst von der eigenen Partei.
 
Nun ist Martin Schulz kein Willy Brandt. Aber die Aufgabe, vor der die SPD steht, wird deswegen leider nicht kleiner. Und kann auch nicht hinausgeschoben werden, bis die Partei sich erneuert hat, wie viele es in der SPD fordern. Ließen die Sozialdemokraten die große Koalition scheitern und erzwängen damit Neuwahlen, stärkten sie mit großer Wahrscheinlichkeit vor allem zwei Kräfte: die Europagegner von der AfD und die Europaskeptiker von der FDP.
 
Zugleich machten sie die eigene Partei auf lange Zeit regierungsunfähig. Dann hätte der "blöde Dobrindt" recht behalten. Die Verzwergung der SPD wäre da. Sie könnte sich dem Glück der Erneuerung in der Opposition hingeben. Und in ihrem Schrebergarten hielten die Wichtel die Wacht.
   
 
 
   


 
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SÜDDEUTSCHE ZEITUNG, 23. Januar 2018: An der Schmerzgrenze
SPIEGEL ONLINE, 20. Januar 2018: Der europäische Imperativ der SPD


 
   
 
 
   
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Fünf vor 8:00 ist die Morgenkolumne von ZEIT ONLINE. An jedem Werktag kommentieren abwechselnd unter anderem Michael Thumann, Theo Sommer, Alice Bota, Matthias Naß, Martin Klingst und Jochen Bittner.