| Guten Morgen, | | |
im Bahnhof Altona gerieten am Sonnabend eine 27-jährige Mutter mit Kinderwagen und eine 54-Jährige mit Fahrrad aneinander. Ort wie Objekt des Streits: der Fahrstuhl am Gleis. Offenbar stand die Radfahrerin bereits im Lift, als die Mutter dazukam und, laut Polizei, sie höflich bat, etwas Platz zu machen. Daraufhin beschimpfte die Radfahrerin die Frau, schlug dann auf den Kinderwagen ein und haute schließlich der Mutter ins Gesicht.
Ohne im Detail zu wissen, wie höflich der Ton tatsächlich war und in welchem physischen und psychischen Zustand sich die Ältere befand, eins scheint ganz eklatant: ihr Mangel an sozialer Kompetenz. Der Fall reiht sich ein in viele andere Vorkommnisse des Alltags, von denen fast jeder von uns berichten kann. Situationen, die nicht derart eskaliert sein mögen wie die obige, aber doch von einem Zustand künden, den einige als Verfall der Sitten sehen, andere für Symptome einer Zukunft, in der in unserer Gesellschaft mit noch härteren Bandagen gekämpft wird. Da fährt ein Autofahrer beim Abbiegen fast eine ältere Frau über den Haufen, die vorschriftsmäßig bei Grün geht, und statt sich zu entschuldigen, drückt er nur auf die Hupe. Da hält ein Radfahrer auf dem Fußweg auf einen Fußgänger zu und denkt nicht daran, auszuweichen oder langsamer zu werden, nein, im Gegenteil, er zwingt den Mann mit dem Recht des Stärkeren, zur Seite zu springen. Da stoßen bei Budni zwei gestylte Frauen, die einander keinen Zentimeter ausweichen wollten, mit ihren Einkaufswagen vorm Kühlregal zusammen – und beginnen, sich unflätig zu beschimpfen ...
Sicher, über den Verfall von Sitten wird seit Jahrtausenden geklagt. Doch das Nachlassen des allgemeinen Anstands, wenn es denn jetzt wirklich so weit wäre, scheint aktuell besonders besorgniserregend. Denn künftig, sagt Dennis Snower, wird unsere Gesellschaft soziale Kompetenzen noch dringender benötigen. Diese Fähigkeiten haben für den Wirtschaftswissenschaftler und Präsidenten des Instituts für Weltwirtschaft den gleichen Stellenwert wie die Alphabetisierung vor ein paar Hundert Jahren. Für unerlässlich infolge der Digitalisierung hält Snower in Alltag, Schule und Job eine Art Bildungsrevolution zur Entwicklung sozialer Fähigkeiten – Toleranz, Respekt vor anderen, Mitgefühl. Zum einen, weil in den nächsten Jahren zwar viele Routinejobs von Maschinen übernommen würden, der Mensch aber in einigen Bereichen, wie etwa Krankenversorgung und Pflege, unentbehrlich bleibe. Zum anderen würden soziale Kompetenzen in unserer von der Wirtschaft geprägten Welt immer wichtiger, denn sie könnten Handelskriege und echte Kriege verhindern. »Wir müssen in einer globalisierten Welt mit Klimawandel und Finanzmarktkrisen auch Mitgefühl entwickeln mit Menschen auf anderen Kontinenten, die ganz anders sind als wir«, sagte der Wissenschaftler der Nachrichtenagentur dpa. Das hätten wir eigentlich schon längst tun sollen; nötig ist es trotzdem.
Matthiae-Mahl: Europa in Hamburg Die Sondierungsgespräche sind vorbei, CDU, CSU und SPD haben sich trotz meckernder sozialdemokratischer Landesverbände vorerst zusammengerauft und bekennen sich klar zu Europa. Nun legt Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz noch eine Schippe drauf. Ehrengast des diesjährigen Matthiae-Mahls am 2. März ist EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, gab die Senatskanzlei bekannt. Aus der besonderen Symbolik dieser Einladung macht Scholz keinen Hehl. Gerade in Zeiten, »in denen manche glauben, auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts mit der Politik des 19. Jahrhunderts antworten zu können, als nationalstaatliche Egoismen vorherrschten«, wolle er die Bedeutung der EU herausstellen, so Scholz. Sich mit gleich gesinnten Demokraten zusammenzutun, sei wichtig, da kein Land, »nicht einmal die Vereinigten Staaten von Amerika« noch in der Lage wären, sich allein in der Welt zu behaupten. Nach dem Brexit-Votum hatte Juncker sich für eine stärkere Zusammenarbeit der verbliebenen 27 EU-Staaten und eine Aufstockung des EU-Haushalts eingesetzt. Die Europadebatte in der Sondierung lobte er als »konstruktiv und zukunftsorientiert« – was kaum überrascht, signalisierten die Groko-Parteien doch, höhere Beiträge für die Europäische Union zahlen zu wollen. Dass Juncker nach Hamburg kommt, zeigt, wo Scholz europapolitisch steht: Zusammenhalt statt Spaltung. Selbstverständlich ist dieses Credo nicht. Horst Seehofer etwa herzte bei der CSU-Winterklausur lieber den nicht nur wegen seiner restriktiven Flüchtlingspolitik umstrittenen ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán. Auch so kann man Zeichen setzen. |
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