10 nach 8: Heike-Melba Fendel über SPD

 
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22.01.2018
 
 
 
 
10 nach 8


Auf dem Parteitag gewesen. Geweint.
 
Was in Bonn geschah, ist kein Beispiel für die Zerrissenheit einer Gerade-noch-Volkspartei. Sondern für Streitkultur, Gesprächsbereitschaft und Respekt vor Komplexität.
VON HEIKE MELBA-FENDEL

  Was ganz Neues: Es ging auf dem SPD-Parteitag um produktive Auseinandersetzung, statt um Rechthaben oder Besserwissen. © Kay Nietfeld/dpa
 
Was ganz Neues: Es ging auf dem SPD-Parteitag um produktive Auseinandersetzung, statt um Rechthaben oder Besserwissen. © Kay Nietfeld/dpa
 
 

Ach ja, die Sozis, am Ende alles noch mal krass peinlich: Ein unbekannter Mann an der Klampfe stimmte auf der Bühne das Schlusslied aller SPD-Parteitage an, dessen Text zuvor an die Delegierten im Saal verteilt worden war: Wann wir schreiten Seit' an Seit'.

Das Prinzip Schlusssong also, wie wir es aus den Siebzigerjahren des deutschen Fernsehens kennen – Klimbim ist unser Leben …  – und wie es sich bis heute in Sendungen, die kein halbwegs cooler Mensch guckt, gehalten hat: Willkommen bei Carmen Nebel. Der eher junge Generalsekretär Lars Klingbeil hingegen mühte sich linker Hand, da, wo der Parteivorstand saß, einen nicht allzu genervten Gesichtsausdruck ab. Rechter Hand jedoch fiel der Blick auf Franz Müntefering, der dort, in erster Reihe stehend, vollends textsicher sang, die Faust ballte und öffnete und, ja, elastisch mit den Knien wippte. Das nun war alles andere als peinlich. Es war ergreifend in seiner selbstvergessenen Inbrunst.

Nur wenige Minuten zuvor hatte Heiko Maas das mit 362 zu 279 ausgegangene Votum der SPD-Delegierten für Koalitionsverhandlungen mit der CDU/CSU bekannt gegeben. Es ist dieses Ergebnis, das von diesem Parteitag in der Bonner Mehrzweckhalle mit dem großspurigen Namen World Conference Center bleiben wird. Das erwartet wurde, infrage gestellt und in seinen Konsequenzen wie in seinem möglicherweise gegenteiligen Ausgang analysiert wurde. Und der nächsten heute-show als Witzvorlage dient.

Ob die 280 Zeichen, die Twitter seinen Nutzern schenkt, der eine Satz, in dem sich jeder gute Film angeblich erzählen lässt, oder das resignierte Credo der TV-Journalisten: "Ist der Reporter noch so fleißig, am Ende wird's einsdreißig" – immer geht es um Verknappung all dessen, dem man beigewohnt hat.

Die Wirklichkeit also hoppelte ihrer vorab ausführlich erfolgten Analyse hinterher. Was kann ein Parteitag noch "liefern" – um einen in der Politik seltsam häufig bemühten Begriff zu verwenden –, das nicht zuvor medial antizipiert worden wäre? Martin Schulz wirkte so erschöpft, wie er zuvor vielerorts beschrieben worden war. Andrea Nahles schrie, wie Frauen eben gelernt haben zu schreien, weil sie anders kein Gehör erfahren. Und der Juso-Chef Kevin Kühnert erwies sich als das "politische Talent", zu dem man ihn allerorts ausgerufen hatte.

Kürze erzeugt Wiedererkennbarkeit. Und zwar die Wiederkennbarkeit der Prognose im Erlebten. Das Wesensmerkmal der PR-Gesellschaft ist die so rechthaberische wie grammatikalisch kühne Form des Ich-sage-wie-es-gewesen-sein-wird als Klugscheißervariante des Prinzips Horoskop oder Wettervorhersage. Außer Thesen nix gewesen.

Und ja, etliche Protagonisten der Berichterstattung, die im Rahmen von Kürzungen nicht ausradiert worden waren, weil sie wahlweise prominent (Funktionär) oder sachdienlich (Querulant) sind, erfüllten nur allzu bereitwillig ihren Job als Stichwortgeber. Der britischstämmige Medienschaffende und Vorsitzende des Vereins NoGroKo, Steve Hudson, etwa fragte bei Journalisten so charmant wie beharrlich an, ob man ihn nicht endlich interviewen möge. Auf dem Kopf trug er eine rotweiße Zipfelmütze. Sie ist das vielleicht etwas unglücklich gewählte styling statement der Groko-Gegner als Antwort auf Dobrindts Kritik am "Zwergenaufstand" in der SPD. Nun sah es leider so aus, als verknüpften die Protestierenden ihr Beharren auf eine Absage der Koalitionsverhandlungen mit dem Glauben an den Weihnachtsmann.

Wie so manches an diesem Sonntag in Bonn unglücklich zu laufen schien, der dünne Applaus im Anschluss an Martin Schulz' knapp einstündige Rede, in deren Anschluss 113, mit jeweils drei Minuten Redezeit veranschlagte Wortmeldungen drohten. Die meisten von Menschen, die der sogenannten breiten Öffentlichkeit völlig unbekannt sind: "Sacht mir nix!". Das ging nicht immer unfallfrei ab, erwies sich aber als Bollwerk – wieder so ein eigentümliches Lieblingswort der Delegierten – gegen Berechenbarkeit.

Anja Niedenzu etwa, Vorsitzende des Ortsvereins Rodenberg, stolperte die wenigen Stufen zur Bühne hinauf und fiel bäuchlings hin. Nur um völlig ungerührt aufzustehen und eine tadellose Rede zu halten. Wie überhaupt die Frauen aus der sogenannten zweiten Reihe sich im Rahmen ihrer Wortmeldungen erst einmal verstolperten. Annika Klose, der 25-jährigen Berliner Juso-Versitzenden, brach vor Aufregung immer wieder die Stimme, was den Chefredakteur der Welt am Sonntag, Peter Huth, dazu veranlasste, sie zuerst in einem Tweet als "sehr aufgeregtes Mädchen von den Jusos" zu disqualifizieren, bevor er darauf hinwies, dass sie mehr Applaus als Martin Schulz erhalten habe.

Auch Daniela Kolbe, Generalsekretärin der SPD Sachsen, war aufgeregt. Sie hatte sich eine etwas umständliche Bauch/Kopf/Herz-Metaphorik zusammengebastelt, um ihren Zwiespalt zu erläutern: "Mein Herz sagt mir, dass ich diese Partei sehr lieb habe …" Oder die deutsch-bosnische Generalsekretärin der SPD in Baden-Württemberg, Luisa Boos. Sie begann von ihren Einschlafproblemen als Fünfjährige zu erzählen und stürzte damit die nicht ins Smartphone-Display vertieften Anwesenden zunächst in Verwirrung. Bis klar wurde, dass sie den Bosnienkrieg als unmittelbar Betroffene erlebt hatte, wartend auf Anrufe in der Heimat bedrohter Familienangehöriger. Nicht wissend, was schlimmer war: das Leid, von dem diese Anrufe kündeten. Oder deren Ausbleiben. Boos erläuterte mit ihrer Erzählung, dass Familiennachzug eben nicht nur ein Thema, sondern ein Schicksal ist.

Eine Streitkultur, die den Namen verdient

Diese und weitere Reden verdeutlichten, wie sehr diese Frauen in den politischen Talkshows fehlen. Unbeholfenheit wird dort zumeist als als Ausweis mangelnder Kompetenz bewertet, während sie tatsächlich bloß eingeübten Sehgewohnheiten widerspricht. Auch in der offiziellen Parteitagsberichterstattung wurden diese Auftritte kaum besprochen, obwohl sie in ihrem Ringen um Redlichkeit den professionellen Pragmatismus oder gar Zynismus der Meinungsindustrie in die Schranken weisen.

Auf vollkommen entwaffnende Weise wollte an diesem milden Januarsonntag in Bonn eben nicht nur "Münte", sondern so gut wie niemand cool sein. Oder bloß recht haben. Sondern das Persönliche mit dem Politischen verknüpfen. Und gleichsam den ganzen Arm und Körper zeigen, an dem der Daumen hängt, der letztlich nach oben oder unten gehen muss.

Diese Form der so persönlich geführten wie in ihrer Konsequenz wegweisenden Debatte wird gern zur "Sternstunde der Demokratie" hochgejazzt. Dabei ist sie nichts anderes als die Verbindung von Ehrlichkeit und Kompetenz. Also eine Streitkultur, die diesen Namen verdient.

Das tat sie hier. Und so hatte es den Anschein, als stemme sich das Kollektiv der Redner gegen die bevorstehende Entscheidung, weniger weil er zu ihren jeweiligen Gunsten oder Ungunsten ausgehen könnte, sondern weil sich die Statik der Ungewissheit so gut für das Besiedeln freier Räume eignete. Räume, in denen abseits von Sach- und Fraktionszwängen vieles möglich ist. Auffallend viele Redner, darunter auch einige Juso-Vetreter, beendeten ihre Beiträge mit dem alten Bergmanngruß  "Glückauf". Weiß man doch nie, ob man das nächste Einfahren überleben wird.

Sicher ist für die SPD wenig

"Man kann in der SPD viel erleben", wusste auch Rudolf Scharping im fliederfarbenen Kaschmirpulli zu berichten, bevor er ausführte, wo überall in der Welt er herumkomme – China und so. Nach seinem Redebeitrag kehrte er zurück an seinen Platz neben Kurt Beck, der in der SPD auch schon viel erlebt hat. In der Reihe hinter ihnen verfolgte auch Hans Eichel handyfrei konzentriert sämtliche Reden des Tages, bis zum letzten Wort, das Martin Schulz ergriff.

Es wundert nicht, dass er, dessen Verzagtheit in der Eingangsrede immer wieder als PR-Problem aufschien – "Ich habe in den letzten Tagen vieles in der Presse lesen müssen …" – Minuten vor der Abstimmung Johannes Raus Minimalformel zitiert: "Ein Prozent von etwas ist mehr als 100 Prozent von gar nichts". Erstaunlich jedoch, dass er seinen Delegierten erst einmal erklärt, dass Johannes Rau Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen und späterer Bundespräsident war. Sicher ist sicher.

Denn sicher ist bei den Sozialdemokraten bekanntlich wenig. Auch nicht der Ausgang der Wahl, die planmäßig gegen 16.30 Uhr erfolgte, denn, so hieß es besorgt, viele Delegierte hätten ja einen langen Heimweg. Die Auszählung als retardierendes Moment verdichtete die Eindrücke des Tages und schützte sie gleichzeitig vor der Eindeutigkeit verknappender Urteile. Eindeutigkeit kennt und will keine Fülle. Die jedoch brachten diese fünf Stunden, in denen es vielen Rednerinnen und Rednern um viel mehr ging als um Rechthaben, Rumfloskeln oder Besserwissen.

Klar, die Kleine-Leute-Folklore wurde bisweilen ebenso überstrapaziert wie das Verweisen auf historische Verdienste der Partei und deren Unschuld am genussvoll ausgeschmückten Scheitern der Jamaika-Sondierung. Klar, es waren vor allem die jungen Delegierten, die den Alten ihr Nein entgegenschleuderten und es in einen Generationenkonflikt verschoben. Und, ja, klar waren diese fünf Stunden ein Dokument der Unentschlossenheit, das von dem knappen Wahlausgang besiegelt wurde.

Und doch erzählt dieser Parteitag genau nicht von Zerrissenheit oder Spaltung einer Gerade-noch-Volkspartei. Sondern von der Ebenbürtigkeit der Positionen und der Art, in der sie vertreten wurden. Wo der Juso-Chef Kevin Kühnert, die Facebook-Werbung variierend, seine Genossen aufforderte: "Macht die SPD zu eurer SPD", verhieß Malu Dreyer: "Die SPD kann glänzen".  Kann sie, hat sie getan an diesem 21. Januar.

Vielleicht sollte man mal wieder einer Partei beitreten. Muss ja nicht die SPD sein. Könnte es aber. Weil es eben nicht um Gewinnen oder Verlieren geht. Sondern um Gesprächsbereitschaft. Und um Respekt vor Komplexität. 

Und damit zurück zu Twitter.

Heike-Melba Fendel ist Autorin und Inhaberin der Künstler- und Veranstaltungsagentur Barbarella Entertainment. Sie lebt in Köln und Berlin. Sie ist Mitglied der Redaktion von "10 nach 8".

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