Sechseinhalb Minuten InfernoSie ist die wahre Heldin des Sonderparteitages der SPD: Andrea Nahles, die Oprah Winfrey aus der Vulkaneifel. Eine nachträgliche Würdigung VON MELY KIYAK |
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Andrea Nahles sitzt neben Martin Schulz und ist die Ruhe selbst. Er hielt auf dem Sonderparteitag eine einstündige Rede, deren Höhepunkt mal wieder eines seiner berühmten Telefonate war: "Gestern rief mich Macron an." Sie verzieht nicht das Gesicht. Sie sitzt und ist einfach da. Aber nicht gönnerhaft. Sie tätschelt ihn nicht oder macht irgendetwas, das ihn würselig aussehen lassen könnte. Ihre Großzügigkeit zeigt sich darin, dass sie auf jegliche Gesten verzichtet, weil sie weiß, dass alle Kameraleute über Stunden hinweg genau darauf warten. Neben der Schwesig oder dem Schäfer-Gümbel wäre Schulz schon längst zur Seite weggesackt, derart schlecht geht es ihm. Aber nicht das macht sie zur Heldin dieses Parteitages, sondern ihr Auftritt. Nach Stunden erst ist sie dran. Sie fängt damit an, dass sie ein Zitat von Kevin Kühnert, dem Vorsitzenden der Jusos aufgreift. Er sprach von der Notwendigkeit, klein zu sein, damit daraus etwas Großes werden kann, oder so etwas in der Art. Vielleicht war es auch etwas mit Riese und Zwerg. Es klang wie ein berühmtes Zitat aus einer Walt-Disney-Produktion, König der Löwen oder so. Andrea Nahles jedenfalls greift das auf und beginnt ihre Rede (hier können Sie sich die Rede in voller Länge anschauen) mit der Frage, was denn mit dem Wort "etwas" gemeint sei. Was genau sei denn "etwas Großes"? Um dann mit der Pointe zu schließen, dass sie bei der Suche nach dem Großen immer im Kleinen fündig wurde. Und das ist ziemlich philosophisch und weise. Und man spürte im Saal, hier ist völlig unerwartet gerade eine andere Energie unterwegs. … und der Karl weiß das und die Manu auch Die ersten 90 Sekunden sind um, Zwischenapplaus unterbrochen durch Zwischenapplaus. Die Groko-Gegner kneten sich nervös die Hände, um nicht mitzuklatschen. Denn sie ist hinreißend, sie kämpft, sie steckt allein im Schacht und fördert mit ihren eigenen Händen Kohle, sie ist sozialdemokratisch, mehr sozialdemokratisch geht nicht. Selbst Sigmar Gabriels fabelhafte "Wir müssen dahin, wo es brodelt, riecht und stinkt"-Rede wirkt dagegen wie die Rede eines Studienrates. 90 Sekunden. Kühnert hat sie schon abserviert. Die Anekdote vom Flughafen, "Sebastian Harchtmann war dabei. Er kann es bezeugen", ist fertig erzählt. Sie ist nicht lau, nicht warm, nicht heiß. Wäre sie Wasser, würde sie längst sprudelnd kochen. "Mir blutet das Herchhtz, und der Karl weiß das und die Manu", sie schlägt mit der geballten linken Faust auf – na klar, ihre linke Brust, da wo das "Herchhtz" sitzt, weil "der Arzt für den Privatpatienten das Zweieinhalbfache abrechnen kann und für'n AOK-Mitglied wie mich nich'!" Die Zeigefinger beider Hände stechen in die Brüste, wie als steche sie sich selber mit dem Messer ab, die "Nossenundnossen" unter den Groko-Gegnern schmieren sich zu diesem Zeitpunkt bereits Sekundenkleber unter ihre Hintern, um vor Begeisterung nicht aufzuspringen. Bei Anruf: Macron "Wir können mit den Konservativen nicht alles durchsetzten, deshalb sind wir doch eine eigenständige Partei und deshalb heißen wir doch SPD." Der Satz ist nicht die Krönung, aber an ihren Händen sieht man, dass sie im Flow ist. Wenn sie mit den Händen Flugzeugbewegungen macht, als ob sie einen Jumbo in die Lüfte hebt, dann folgen ihr 641 Augenpaare in den Himmel. Nicht nur die Hände scheppern im Stakkato ihrer Sprache auf das Pult, auch ihr Körper hebt fast ab. Man sieht mit fortschreitender Minute wie die Delegierten scharenweise innerlich ins Ja-Lager wechseln. Und man denkt, jetzt springt doch endlich auf, ihr vertrockneter Haufen staubiger Hirse. Schulz sitzt in der ersten Reihe. Ihm ist das Blut aus dem Gesicht gewichen. Man sieht ihm förmlich an, wie es hinter seiner Stirn arbeitet. Er weiß, dass Andrea Nahles die SPD mit dieser Rede rettet. Er weiß aber auch, dass er mit jedem Applaus, den sie bekommt, politisch erledigter wird. Und zwar restlos. Wie genau, wird man am Abend bei Anne Will sehen können. Zwar hat er auch da zuvor wieder "einen Anruf von Macron bekommen". Aber ansonsten ist er wirklich nur noch ein Schatten seiner selbst. Zurück zu Nahles. Die ist schon im Morgen angekommen, wo sie dafür kämpfen wird, "dass die Bürgerversicherung kommt!", sie schiebt beim Sprechen nicht nur das ganze Rednerpult um mehrere Zentimeter vor, sondern das gesamte World Congress Center Bonn (ausnahmsweise soll der Name der Halle unkommentiert bleiben) ist nicht mehr auf seinem Platz. Eine Satellitenkamera würde das sicher problemlos beweisen können. "Leute!!" Andrea Nahles schreit, brüllt, bebt, sie meint das wirklich alles Wort für Wort genau so, sie guckt nicht ins Manuskript, es ist alles frei gesprochen und passt maßgeschneidert, genau richtig, genau so muss es sein, jede Silbe sitzt. Die entsetzten Groko-Gegner versuchen verzweifelt, sich gegenseitig die zündelnden Lunten auszutreten. Man sieht bei der Fernsehübertragung Schmurgelrauchschwaden durch den Saal schweben. Nahles hat sie angesteckt, ob sie wollen oder nicht, immer wieder klatscht einer aus dem Nein-Lager aus Versehen wie verrückt mit. "Leute!!", Andrea nimmt nun das Manuskript und faltet es in die rechte Hand, "Leute, wir geben", und jetzt spricht sie wie eine Domina im Ruf-mich-an-Stil, das gerollte Papier in ihrer Hand ist ihre Peitsche, sie knallt es im Takt der Silben auf das Pult, "die ES-PE-De-nicht-auf". Es ist erst ein Drittel ihrer Rede um, sie spürt, jetzt muss der Teil mit der Selbsterkenntnis kommen, sie quetscht sich zwischen die beiden schlanken, flexiblen Mikrofonständer, schaut dazwischen hervor und gibt irgendetwas zu, dass auf "da gebe ich euch recht" endet und schiebt noch irgendwelche "kommunikativen Fehler" hinterher. Wie in Dubai! Sie weiß aber auch, dass sie es mit der Selbstkritik nicht übertreiben darf, denn gleich werden wieder ein paar Redner langatmig und unoriginell die Selbstzerfleischung vorantreiben, da braucht sie nun wirklich nicht vorweggreifen. Deshalb beendet sie das Ganze schnell mit einem unvermittelten "Ja" und das kann nur Andrea Nahles. Ein knappes Ja so klingen zu lassen, als hätte sie genervt und schnippisch "jahaa, wir wissen es doch längst" gesagt, aber es ist nur ein einfaches Ja und es steckt darin eben auch äußerst erfrischendes "na und?!" drin. Nun passiert etwas ganz Außergewöhnliches. Die Kameraeinstellung ändert sich insofern, dass Andrea Nahles durch das D von SPD gefilmt wird. Gemeint sind die großen roten Buchstaben, die als Bühnendeko dienen. Und während man durch das D die Nahles von hinten am Pult stehend sieht, referiert sie vorne, dass es in den Nachbarländern doch so sei, dass die Sozialdemokraten überall, ob sie nun mitregieren würden oder nicht, vor der gleichen "Malässe" (ruhrpöttlerisch für malaise) stecken würden und fragt im Duktus eines Kabarettisten aus Dortmund oder Wattenscheid "watt um allet in der Welt hat datt mit der Merchhkel, dem blöden Dobbrindt, unddenannarn zu tun?". Man muss das jetzt straffen, weil jede Minute ihrer Rede fulminant wie eine dieser aufwendigen achtzehntürmigen Fontänen, wie sie alle paar Meter in Dubai aus dem Meer mit viel Druck in den Himmel aufsprühen, so voller Energie und überbordender Opulenz ist, dass man es sich besser auf YouTube anschaut, als es sich hier sekundengenau nacherzählen zu lassen. Normalerweise sieht man auf SPD-Parteitagen, wie während der Reden herzhaft Gummibärchen gelutscht werden, die meist als Merchandising auf den Tischen der Delegierten liegen und natürlich rot sind. Oder wie die Genossen reihenweise in Snickers, diese ehrlichen, kernigen Schokoladenriegel mit Erdnüssen beißen, was ja der Smoothie der Sozen ist. Dieses Mal aber starren sie gebannt auf sie, für die Hälfte des Saales Parteifreundin und die andere Hälfte Parteifeindin, essen nicht, trinken nicht, vergessen, auf die Tablets zu schauen, mit dem Sitznachbarn zu quasseln, sie stehen alle 641 komplett unter Schock. Und das spürt sie. Und nur deshalb kommt jetzt einer dieser Momente, die man so liebt. So wie man es liebte, wenn Stoiber sprach, weil man wusste, dass es niemals eine Rede geben wird, in der er sich nicht semantisch wie ein blinder Frosch in einem Topf gekochter Spaghetti verheddern würde, der immer wieder am Topfrand zurück ins Wort-Wirrwarr zurückrutschte, wird es wohl niemals eine Rede geben, in der Andrea Nahles nicht eben doch auch Andrea Nahles sein wird. Das Ja-Lager verzichtet aufs Aufstehen Sie neigt dazu, sich rhetorisch im Sandkasten auf Kita-Niveau zu bewegen, da wo sich Dreijährige gegenseitig mit der Plastikschaufel auf ihre noch kinderweichen Schädel einen überziehen, aber wie gesagt, sie spürt, dass da gerade etwas Großes am Gelingen ist, dass nämlich die narkotische Stimmung des Parteitages – später wird man es eine "respektvolle Diskussionskultur" nennen, in einen Orkan umschlägt. Und nur deshalb entgleist ihr für einen kurzen Moment die Intonierung, und man zweifelt nur deshalb, dass es sich hier um eine Art Oprah Winfrey aus der Vulkaneifel handeln könnte. Sie sagt, sie habe keine Angst vor Neuwahlen, aber sie habe Angst vor den Fragen der Bürgern, "ganz einfache Fragen werden das sein", dann mit etwas mehr Nachdruck "gaaanz einfache Fragen werden das sein" und man ahnt, jetzt gleich wird es passieren. Was die "Bürgrinn'nunbürga" dann machen werden? Die Stimme geht hoch: "die zeigen uns nen Voo-gäl!", wie kann man die Intonierung beschreiben? Gar nicht, das muss man anschauen, aber vorher eine Flasche Champagner öffnen, entlang der Ruhr – also Recklinghausen und so weiter – tut es sicher auch eine Pulle Asti Spumante und dann jedenfalls auf Höhe von 5:25 anklicken, anstoßen und genießen. Denn jetzt bleibt nur noch eine Minute ihrer sechseinhalbminütigen Rede übrig, an deren Ende ein wahnsinniger Applaus hochschäumt und es nur deshalb keine Standing Ovations gibt, weil die Groko-Gegner sich als geschlossene Gruppe auf den Boden warfen und mit Mobiliar aus dem Sitzungssaal beschwerten, um ihren Widerstand auch ganz sicher nicht aufzugeben. Das Ja-Lager verzichtete aus Pietät aufs Aufstehen. Wenn Emmanuel Macron einen Funken Verstand besitzt, besorgt er sich künftig Andrea Nahles' Nummer und ruft dreimal täglich bei ihr an.
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