Mehr Bevormundung bitte! Wir wissen, was wir wollen und leben, wie es uns gefällt. So schaffen wir den Fortschritt ab. Denn: Gibt es etwas Langweiligeres als die eigenen Vorlieben? VON HEIKE-MELBA FENDEL |
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| | Soll uns manchmal wieder jemand sagen, wo es langgeht? © Liane Metzler/unsplash.com |
Ein regnerischer Dezemberabend in Siegen. Die City-Galerie Siegen befindet sich rechts vom Hauptausgang des Hauptbahnhofes. In konsumangepasster Lage, wie die Stadtverwaltung es nennt. Gegenüber beschreibt die imposante Glasfassade des City-Carrés Siegen einen raupenhaft gewölbten Bogen in die Fußgängerzone der 100.000-Einwohner-Stadt.
Ob auch diese Einwohner sich heute noch mit dem einst gern gewählten Kalauer vorstellen, sie kämen aus dem "Gegenteil von Verlieren"? Die Fußgängerzone mündet in eine weiträumig betonierte Uferpassage. In kurzen Abständen führen ebenfalls betonierte Brücken über das schmale, schnell fließende Flüsschen Sieg Richtung Oberstadt.
Eine Handvoll Stände formieren sich dort, bergauf gestaffelt, zum Siegener Weihnachtsmarkt. Eine Gruppe 16-jähriger Mädchen hat sich gegen das Glühwein-Brezel-Knackwurst-Programm entschieden und sitzt in der örtlichen, auf der Betonrampe gelegenen Subway-Filiale. Sie heben die jeweils obere Hälfte ihrer U-Boot-förmigen Sandwiches an und teilen sich gegenseitig anhand der jeweiligen Füllung ihre Vorlieben und Abneigungen mit: "Ihhh, Zwiebeln!"
Der sehr junge Mann hinter dem Glastresen – im Subway-Jargon "Sandwich-Artist" – hat ihnen diese Sandwiches, genannt Subs, nach ihren Wünschen zubereitet. Neben Größe und Art der Backwaren können auch die weiteren Zutaten wie Salat, Gemüse, Fleisch und Saucen frei kombiniert werden. Nein, nicht können – müssen. 200 Millionen Möglichkeiten, ein "Sub"-Unikat herzustellen, verspricht die Subway-Werbung. Wer den Sandwich-Artist bittet, einem das Chicken-Teriyaki-Sandwich nach dessen eigenem Gutdünken zu belegen, erntet Fassungslosigkeit. Gefolgt von energischem Kopfschütteln.
Jeder hat gefälligst selbst zu entscheiden, was er will. Und kann anschließend, wie die an einem regnerischen Dezemberabend am Kunststofftisch der Subway-Filiale Siegen ihre "Unikate" aufklappenden Mädchen, folgerichtig zeigen, wer er ist. Oder eben nicht ist – "Ihh, Zwiebeln!".
Nun sind Orte und Menschen in Siegen nicht stumpfer als anderswo. Und die Kunst und Unikat beschwörenden Werbetexter sind nur so einfallslos, weil Geschäftskunden es – hier und überhaupt – so wollen. Und dass ich an jenem Abend im Dezember gestrandet bin in dieser Stadt mit dem so optimistischem Namen, das hatte ich ja genauso selbst gewählt wie die Mädchen ihre Subs, die Lokalpolitiker die konsumangepasste Lage der lokalen Shoppingmall und die Stadtplaner den Beton-Brutalismus.
Das Internet als Prügelknabe
Egal, ob das US-amerikanische Grundrecht der freedom of choice nur die Wahl zwischen sehr wenigen ("Trump oder Clinton") oder unfassbar vielen (200 Millionen Subs) lässt. So oder so ist der Wahlausgang auf seine Weise vorgegeben. Immer handelt es sich, wie bei Klassenarbeiten oder Quizshows nach US-Vorbild, um freedom of multiple choice. Also um die Wahl einer bereits bekannten Antwort oder einer der zahllosen Möglichkeiten, von denen gleichwohl jede einzelne bereits genau definiert ist. Die Wahlfreiheit ist damit eine Auswahl von gestern, die ich für morgen treffen kann.
Das so genannte Internet als beliebtester Prügelknabe für alles, was das Leben maßlos, überfordernd und stumpf macht, kann an dieser Stelle aufatmen. Der Algorithmus hat heute mal schuldfrei. Anders gesagt: Die Frage, was zuerst da war, die Fantasielosigkeit analoger Zeiten oder deren Umformung in digitale Produktangebote ist rein rhetorischer Natur – das Internet hat schließlich auch weder die Siegener Innenstadt noch das Geschäftsmodell von Subway erfunden.
Der Zufall ist ein Baustein des Abenteuers
Der Hang, gar der Zwang, allein unter dem wählen zu wollen, was es bereits gibt, muss als menschlich betrachtet werden. Der so genannte Turbokapitalismus hat ihn sich lediglich zur Beute gemacht und liefert emsig immer mehr Produkte: 30 Millionen verfügbarer Songs allein bei Spotify, über viereinhalbtausend Filme und elfhundert Serien bei Netflix, geschätzte 10 Millionen Partnersuchende bei Parship. Und so fort.
Ebenso menschlich wie algorithmenfreundlich ist das Bedürfnis, die eigene Wahlfreiheit zu bändigen und ihr den Boden des Unermesslichen zu entziehen. Und zwar indem alles Verfügbare entlang eigener Vorlieben ausgewählt und konsumiert wird. Das Futur II unserer personalisierten Wahlfreiheit besagt: Ich gucke, esse, bereise und besteige, was mir gefallen haben wird.
Auch ein populärer Parship-Slogan propagiert die Abschaffung der Welt als alles, was der Fall sein kann: "Klar kann ich auf den Zufall warten. Mach ich aber nicht." – Schade eigentlich. Denn mittels der Wahlfreiheit, wie der Kapitalismus sie definiert und der Algorithmus sie strukturiert, verkaufen wir uns selbst für blöd. The future is unwritten, lautet der Titel eines Filmes, den Julien Temple über den früh verstorbenen Joe Strummer gedreht hat. Die Zukunft steht auf einem eigenen Blatt. Nicht auf dem mit der Liste unserer To-dos und Vorlieben oder dem, was wir dafür halten mögen. Wir können dem Ungewissen nicht mit unseren Vorlieben kommen und ernsthaft glauben, das einzig Erstrebenswerte sei der eigene Saft, in dem wir schmoren werden.
Die gleichen Meinungen zu Gott
Der Zufall ist ein Baustein des Abenteuers, wie jede Wahl ein Baustein des Experimentes ist. Abenteuer und Experiment wiederum sind dem offenen Ausgang verpflichtet. Das haben sie mit der Liebe gemeinsam: Wir wissen nicht, was uns erwartet – am Ende und unterwegs. "Freedom of Choice, is what you got. Freedom from Choice, is what you want", wussten Devo bereits 1980 zu singen. Der Fetisch der Wahlfreiheit und die damit verbundene Abschaffung des Zufalls machen uns zu tautologischen Geschöpfen. Ich wähle, was mir gefällt, weil es mir gefällt. Das Gegenteil dieses Verständnisses von Freiheit wäre Bevormundung. Wer jedoch wären wir, uns im privaten Raum Vorschriften machen zu lassen? Das wäre ja noch schöner! Und ja, vielleicht wäre es das. Vielleicht liegt die Bevormundung ja genau in jenem tautologischen Prinzip, demzufolge Identität aus Vorlieben gemacht ist. Und Beziehungen aus der Kompatibilität der jeweiligen Vorlieben. Ab 90 Prozent Übereinstimmung gibt es kein Vertun?
Vielleicht bevormundet uns ja unser eigener Geschmack aufs Äußerste, weil er uns einen anderen zu haben verunmöglicht. Vielleicht ist es schließlich gar nicht so toll, unser eigener Programmdirektor, Stylist, DJ und Chef zu sein. In von unseresgleichen bewohnten Häusern und Nachbarschaften zu leben. Unsere Kinder auf Schulen für ihresgleichen zu schicken. Unserer Playlist bei dem individuell auf uns zugeschnittenen Fitnessprogramm zu lauschen. Unsere Lieblingsgerichte für kulinarisch Gleichgesinnte zu kochen, während wir unsere gleichen Meinungen zu Gott ("gibt es nicht") und der Welt ("aus den Fugen geraten") und irgendjemandes Inneneinrichtung ("too eamsy") durchkauen.
Vermutlich ist auch Siegen bald weg
"Das ist meine Schlangenlederjacke. Sie ist Ausdruck meiner Individualität und meines Glaubens an persönliche Freiheit", sagt Nicolas Cage alias "Sailor" in Wild at Heart, als ihm vorgehalten wird, er sehe aus wie ein Clown.
Lebenswelten, denen wir, ob wir es wollen oder nicht, einfach ausgesetzt sind, mit denen wir klarkommen müssen, schaffen wir sukzessive ab. Ob Großfamilie, heterogene Hausgemeinschaften, hierarchische Arbeitsstrukturen oder Restaurants ohne vegetarische Gerichte oder alternative Menü-Zusammenstellung. Leben ist nicht länger, was als den Tisch kommt und dem Leitspruch gerecht werden könnte, nach dem der Appetit beim Essen komme.
Wahrscheinlich, dachte ich an jenem Dezemberabend, wahrscheinlich wird auch Siegen bald abgeschafft. Die Stadt verströmt jenes gewisse Garnichts, aus dem sich schwerlich Vorlieben, allenfalls Sachzwänge basteln lassen. Der Sachzwang ist, wie jeder Zwang, der natürliche Feind der Vorliebe. Natürlich hat in Wahrheit auch er und nicht mein freier Wille mich hierher verschlagen. So wie er mich in Form eines unbändigen Hungers in diese erste Subway-Filiale meines Lebens verschlagen hat. Er hat mir das "Nein" des Sandwich-Artisten auf meine Bitte hin, er möge doch entscheiden, beschert. Das mich zu einer so glück- wie geschmacklosen Zusammenstellung verleitet hat. Und zu äußerst gierigen Blicken auf die Subs der Mädchen gegenüber.
Eine veritable Überraschung gab es obendrauf: Auf den spitzen Aufschrei "Ihhh, Zwiebeln!" hin, klappte das eine, zwiebelaffine Mädchen ihr "Sub" in aller Ruhe zusammen, hielt es der Freundin hin und sagte: "Probier' doch mal". Sie tat es. Und ließ sich zu einem abschließenden, gar nicht so abweisenden "Joah" hinreißen. Das Gegenteil von Vorliebe ist Aufbruch. Heike-Melba Fendel ist Autorin und Inhaberin der Künstler- und Veranstaltungsagentur Barbarella Entertainment. Sie lebt in Köln und Berlin. Sie ist Mitglied der Redaktion von "10 nach 8".
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