Freitext: Ann Cotten: Drei Wochen in der Normalität

 
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02.12.2017
 
 
 
 
Freitext


Drei Wochen in der Normalität
 
 
Wie das Erwachen aus der Kindheit oder aus einem mit skandinavischen Möbeln vollgestellten Traum: Wer nach China reist, muss die europäischen Krustenrüstungen ablegen.
VON ANN COTTEN

 
© Ann Cotten
 
In China zu sein! Endlich! Ich setze einen Fuß in meine größte Bildungslücke. Es ist die Schwelle einer U-Bahn-Station. Polierter Granit, mit Blindenleitrillen und Warnansagen auf Chinesisch und Englisch. Peking.
 
Wie ist es?
 
Es ist wie aufzuwachen aus der Kindheit oder aus einem mit skandinavischen Möbeln möblierten Traum. Hier sind Erwachsene.
 
Sie gehen, links, rechts von mir, ihren Gewerben nach, waschen Sachen im Abfluss, führen Pudel spazieren. Sie sprechen ohne die Stützräder der kindlichen europäischen Moralmärchen – so klingen für mich die Melodien der Sprechakte. Ich verstehe kein Wort, aber die Gesten sind nicht fremd. Die Mythen kann ich kaum wahrnehmen, lesbar ist mir der Bereich des Common Sense, der aber sitzt, fühlt sich „normal“ an.
 
Nehme ich alles als „normal“ an, wo ich hinkomme und versuche, mich daran anzuschmiegen? Ein bisschen, aber in Ländern der Dritten und Zweiten Welt fühlt es sich an, als würde man einer geistigen und körperlichen Akklimatisation an die globale Realität ein wenig näher kommen, wenn man die Augen und Ohren gut aufsperrt. Denn man ist als Durchschnittseuropäerni[1] ja doch ein ziemlicher Wohlstandszombie. In diesem besonderen Fall könnte das realistische Gefühl auch noch eine speziellere Wurzel darin haben, dass wir in Europa von Gegenständen umgeben sind, die in China designt und produziert wurden; hier flutet die Umgebung dazu herein, wie ein Himmel fehlender Puzzlestücke.
 
Wie ist es?, fragen mich per Mail und auf sozialen Medien Freunde, Familie und Bekannte. Ich antworte ungern und zögernd, bin doch grad angekommen. Staubig, voller Gerüche, smogig, aber nicht unerbittlich.
 
Es ist wie einzutauchen in ein Bad, und die Komputationen fangen an. Mein Volumen (unter Asiatennni sind Europäernnnie immer etwas zu groß; zugleich macht mich die Masse meine Winzigkeit und Unwesentlichkeit spüren) berechne ich aus der Verdrängung des Umfelds, dazu, aus irgendeinem Wissen im Hintergrund zu destillieren, mein spezifisches Gewicht. Das alles quasimetaphorisch übertragen: mein Gewicht als Mensch, als sogenanntes Individuum.
 
Nicht groß. Wie eine Wassernuss etwa. Um mich herum fließt alles weiter. Als Tourist schwimme ich wie ein Stück Scheiße an der Oberfläche; die, die hier leben, haben es schwerer.

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