Das mediale Rauschen ist in diesen Tagen wieder besonders laut. Seit US-Präsident Donald Trump verkündet hat, dass er Jerusalem als Hauptstadt Israels anerkennen und die US-Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem verlegen will, gehen verstörende Bilder in rasender Geschwindigkeit um die Welt: brennende Barrikaden in Ramallah, vermummte Demonstranten in Gaza, israelische Soldaten, die palästinensische Jugendliche durch Jerusalems Gassen zerren.
Andere zeigen israelische Siedler, die Trump als Messias feiern, während propalästinensische Protestler in europäischen Metropolen Israel-Fahnen verbrennen. Gleichzeitig tönt
ein arabischer Politiker nach dem anderen, dass die rote Linie für die Muslime überschritten sei, einige rufen zum Boykott gegen die USA auf.
Das Narrativ scheint klar. Hier die ultrarechten Israelis, für die Trumps Entscheidung ein weiterer Schritt zu einer völligen Verdrängung der Palästinenser ist. Dort die Araber, die nur etwas Symbolik brauchen, damit sie ihre gewalttätige Seite offenbaren. Doch diese Wahrnehmung ist verkürzt.
Die modernen Medien ermöglichen es uns, Ereignisse in der Welt parallel und in Echtzeit mitzuerleben, auch wenn wir selbst nicht vor Ort sind. Doch führt das nicht unbedingt dazu, dass wir diese Ereignisse auch tatsächlich verstehen, geschweige denn alle Erzählungen hören, die es dazu gibt. Vielmehr lässt das unablässige Einprasseln von Bildern und Nachrichten den Menschen oft überfordert zurück; verloren im Dickicht sich beständig erneuernder Schlagzeilen. Als Unordnung der Simultaneität bezeichnete der französische Medientheoretiker Paul Virilio schon 1990 die damit verbundene Unübersichtlichkeit, die sich heute mit Facebook und Twitter noch verstärkt hat. Doch liegt in den sozialen Netzwerken gerade in Momenten weltpolitischer Zäsuren auch eine Chance: jene Stimmen zu hören, die im allgemeinen Rauschen sonst verschwinden würden.
Die Wut, die sich derzeit bei vielen Syrern, Ägyptern und Tunesiern über Trumps Entscheidung in Dutzenden Kommentaren auf Facebook, Twitter und Instagram Bahn bricht, erzählt noch eine andere Geschichte – nämlich ihre eigene. Viele meiner arabischen Bekannten haben ihre Profilbilder mit Bildern vom Felsendom getauscht, bei anderen prangt "Solidarität mit Al-Kuds" auf der Timeline. Al-Kuds, die Heilige, wie Jerusalem auf Arabisch heißt, zählt mit Mekka und Medina zu den wichtigsten Pilgerstätten der Muslime. In der Frühzeit des Islams beteten Gläubige in Richtung Jerusalem und nicht wie heute nach Mekka. Doch vielen geht es nicht nur um die Zukunft von Al-Kuds oder um die prekären Lebensumstände der arabischen Brüder und Schwestern in Gaza und dem Westjordanland. Es geht ihnen um viel mehr. Für sie ist der Kampf der Palästinenser um den Status von Jerusalem ein Sinnbild ihres eigenen Kampfes gegen die Despoten in ihrer Region – und die Wut Ausdruck ihrer Enttäuschung, in diesem Kampf alleingelassen worden zu sein.
Da sind die ägyptischen Studenten, Aktivisten, Künstler, die 2011 auf den Kairoer Tahrir-Platz strömten und für Freiheit und soziale Gerechtigkeit protestierten – und es mit ihrer Vehemenz schafften, den Langzeitdespoten Hosni Mubarak zu verjagen. Von ihren einstigen Hoffnungen auf eine bessere Zukunft ist nichts geblieben, im Gegenteil. Sie müssen heute mit ansehen, wie der einstige Feldmarschall
Abdel Fattah al-Sissi eine brutale Militärdiktatur installiert hat und sämtliche Kritiker verfolgen und verhaften lässt – und trotzdem oder deswegen von vielen hofiert wird: von Trump, dem russischen Präsidenten Putin, aber auch von vielen europäischen Staatsführern. Ein ägyptischer Bekannter fasst es so zusammen: "Von Syrien bis zum Irak führen internationale und regionale Machthaber blutige Kriege. Dafür nutzen sie die konfessionellen Spannungen aus oder unterstützen Militärdiktaturen, vorgeblich, um gegen den Terror zu kämpfen. Was aus uns wird, interessiert sie nicht."
Da sind die syrischen Menschenrechtler, Filmemacher und Journalisten, die einst
in den Straßen von Damaskus und Aleppo friedlich für eine sanfte Öffnung ihres Landes nach Jahrzehnten der Diktatur protestierten – und dann erleben mussten, wie das Assad-Regime die Proteste mit aller Brutalität niederschlug und den Weg für einen Krieg bereitete, der Hunderttausende das Leben gekostet und zwölf Millionen Menschen zur Flucht gezwungen hat.
Die einstigen Hoffnungen der jungen Syrer wurden längst von einer grausamen Erkenntnis eingeholt: Ein Regime wie das von Assad kommt mit seinen Verbrechen davon; es wird von einigen westlichen Staatsführern gar als die einzige Option gestützt. Viele Syrer sehen es so wie Mohammed aus Damaskus: "In meiner Welt kann ein Henker wie Assad sein eigenes Volk auslöschen und braucht dafür keine Strafen zu fürchten. Jerusalem ist die Hauptstadt all jener, die für Freiheit und Würde kämpfen", schreibt er auf Facebook.
Da sind auch die jungen Tunesier, die trotz guter Ausbildung in ihrer Heimat keine Arbeit finden und gezwungen sind, sich auf den gefährlichen Weg nach Europa zu machen. Oder die Libyer, deren Land zwischen den Kämpfen rivalisierender Regierungen, Milizen und Gangstern zermalmt wird und die miterleben, wie europäische Staatschefs Deals mit
ebenjenen Clans einfädeln, die für den Staatszerfall mitverantwortlich zeichnen. Und die Iraker, deren Kindheit und Jugend von Gewalt, Hass und anderen Folgen der US-Invasion geprägt waren und die nun erleben, wie die westlichen Verbündeten nach ihrem Kampf gegen den IS das Land erneut dem Chaos überlassen.
Die Enttäuschung, die sich da gerade am Beispiel von Jerusalem kanalisiert, ist also auch die Enttäuschung derjenigen, die noch vor wenigen Jahren von westlichen Medien als "liberale Facebook-Generation" und von europäischen Politikern als potenzielle
changemakers gefeiert wurden. Sie haben längst begriffen, dass die sonst so hartnäckig verteidigten Werte wie Mitbestimmung und politische Teilhabe vor allem den jungen Menschen in der westlichen Welt vorbehalten sind.
Dabei sind sie es, die der arabischen Zivilgesellschaft eine Stimme geben, die abseits der großen Politik einen Wandel in ihren Ländern herbeiführen können. Dafür muss man ihnen zuhören. Auch jetzt, wenn das Rauschen ohrenbetäubend ist.