Kiyaks Deutschstunde: Widerstand gegen das Offensichtliche

 
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Kiyaks Deutschstunde
07.12.2017
 
 
 
 
Was meinen Politiker, wenn sie sagen, was sie sagen? Und: Was meinen sie wirklich? Mely Kiyak sagt’s Ihnen!


Widerstand gegen das Offensichtliche
 
Nach zwölf Jahren wird der "Täter" Oury Jalloh als Opfer von Polizeigewalt anerkannt. Zwölf Jahre! Offensichtlich hat der demokratische Rechtsstaat ein großes Problem.
VON MELY KIYAK

In Deutschland wurde ein Asylbewerber in einer Zelle von der Polizei gefesselt und angezündet. Kann man diesen Satz wirklich ohne weitere Einschränkung so stehen lassen? Wenn diese Aussage stimmt, warum wird bei Frank Plasberg darüber nicht diskutiert, nicht bei Anne Will, warum richtet Steffen Seibert keine Stellungnahme der Kanzlerin aus?
 
In Sachsen-Anhalt wurde im Januar 2005 ein Mann festgenommen. Er war aus Sierra Leone geflohen, landete in Dessau und wurde bei einer nächtlichen Polizeikontrolle in Gewahrsam genommen. Es handelte sich um Oury Jalloh.
 
Von hier an müsste man jeden Satz mit der Ergänzung "laut Angaben der Polizei" versehen. Laut Angaben der Polizei sei er wegen Randale aufgefallen. Habe zuvor mit weiteren Afrikanern Frauen belästigt. Habe hohe Mengen an Drogen und Alkohol im Blut gehabt. Habe sich geweigert, sich auszuweisen. Habe Widerstand geleistet. Habe bei seinem Geburtsdatum gelogen. Habe mit einer weißen Deutschen ein Kind gezeugt. Das Kind sei in fremde Obhut gekommen.
 
Es ist haargenau das Bild, das man von Geflohenen aus Afrika in gewissen politischen Kreisen zeichnet.
 
Asylbewerber aus Afrika haben nämlich nie Namen, gehören keinen Staaten an. Haben keine Vergangenheit, keine Biografien. Niemand zeichnet gefühlvolle Porträts von ihnen im Spiegel. Keiner beeilt sich, im Falle einer Täterschaft schnell auf ein psychisches Trauma hinzuweisen. Ein geflohener Mensch aus einem Staat auf dem afrikanischen Kontinent hat eine Kollektividentität.
 
In der Nacht zum 7. Januar 2005 wird Oury Jalloh auf eine Liege gefesselt. Seine Arme und Beine sind fest verbunden. Es existieren zwei Listen. Laut der ersten Liste trug er kein Feuerzeug bei sich. Auf der zweiten taucht ein Feuerzeug auf.
 
In Oury Jallohs Zelle entsteht ein Brand. Er wird auf seiner Matratze auf dem Boden liegend tot aufgefunden.
 
Plötzlich bewegt sich politisch etwas
 
Zwölf Jahre lang wird ermittelt. Die zuständigen Polizeibeamten, die in dieser Nacht in der Polizeistation Dessau in der Wolfgangstraße 25 Dienst hatten, werden während dieses Jahrzehnts zunächst beschuldigt, nicht genügend aufgepasst zu haben. Sie bekommen milde Strafen, werden suspendiert beziehungsweise versetzt. Ihre Namen werden bis heute geschützt.
 
Das WDR-Magazinteam um den Redaktionsleiter Georg Restle zitierte vor 14 Tagen in der Sendung Monitor Auszüge aus einem Gutachten der Oberstaatsanwaltschaft: Erstmals konzentrierte sich der Justizapparat nicht darauf, Jalloh seine Selbstanzündung unter gefesselten Bedingungen nachzuweisen, sondern Mord als Ursache für seinen Tod in Erwägung zu ziehen. Nach zwölf Jahren wird aus dem Täter Oury Jalloh ein Opfer von Polizeigewalt.
 
Als Reaktion auf die Sendung hat der sachsen-anhaltinische Landtag in Magdeburg vergangene Woche Akteneinsicht gefordert. Zum ersten Mal seit zwölf Jahren bewegt sich also politisch etwas. Vor allem die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses rückt in realistische Nähe.
 
Es ist dem unermüdlichen Engagement und den Zweifeln von Menschenrechtsgruppen, Aktivisten und Journalisten zu verdanken, dass die These widerlegt wurde, dass ein vermeintlich hoch alkoholisierter und zugekokster Mensch in der psychischen und motorischen Verfassung gewesen sein soll, während seiner gewaltsamen Festnahme sein Feuerzeug versteckt und später fest verbunden seine Matratze angezündet zu haben. In dem Gutachten wird nun sogar in Erwägung gezogen, dass Oury Jalloh erst getötet, dann verbrannt wurde. Von Brandbeschleunigern ist die Rede. Von Verletzungen, die dem Mann zugefügt wurden. Ein funktionierender Rechtsstaat hätte auf einen gefesselten, verletzten und verbrannten Ausländer anders reagiert. Auch im Osten des Landes.
 
Man muss große Umwege gehen
 
Es ist alles wie gehabt. Wie beim NSU. Die Prämisse, dass ein vermeintlich oder tatsächlich ausländisches Opfer zunächst immer ein Täter ist, ist ein in Deutschland alltäglicher Ermittlungsansatz. Wie bei Halit Yozgat, der in Gegenwart eines Verfassungsschützers erschossen wurde. Jahre verbrachte der Staat damit, dem Verfassungsschützer und V-Mann-Führer beizustehen und die Tatsachen so zu verbiegen, dass die Wahrheit krumm wie eine Banane dalag. Jahre vergingen, bis der Lügner unter dem Druck der Öffentlichkeit zusammenbrach und zugab, dass er da war. Nun traut man sich endlich, die Frage zu stellen: Hat Andreas Temme Halit Yozgat erschossen? Welches Verhältnis hat der ehemalige Verfassungsschützer zum NSU? Ist er der NSU?
 
Deshalb dauern diese Art Ermittlungen oft Jahre und Jahrzehnte an. Weil man Umwege gehen muss. Weil man das Offensichtliche gegen den Widerstand derjenigen beweisen muss, deren eigentliche Aufgabe es wäre, Verbrechen zu ahnden und nicht zu begehen.
 
Der Rechtsstaat ist die Summe aller Mitarbeiter in Justiz, Polizei und Sicherheitsbehörden. Und der Politik. Als minderjährige Geflohene von Bautzener Bürgern durch die Straßen geprügelt und gejagt wurden, konnte Michael Kretschmer von der CDU bei Anne Will sitzen und ohne nennenswerten Widerstand aus diesen Opfern Täter machen. Es war ihm ein dringendes Anliegen, mitzuteilen, dass ein paar Jugendliche Geflohene den Kornmarkt in Bautzen "okkupiert" und die Stadt zu einer "No-Go-Area" degradiert hätten. Kretschmer wird aller Voraussicht nach Sachsens nächster Ministerpräsident. Kann so jemand ein Garant für integres und rechtsstaatliches Handeln sein?
 
Wenn ein solcher Vorfall zu einem Einzelfall heruntergespielt wird, ist das meistens ein Zeichen dafür, dass man sich mitten in einer Entwicklung befindet. Mittlerweile zählt das Bundeskriminalamt ungefähr 1.000 registrierte Einzelfälle von Gewalt gegen Geflohene und Immigranten pro Jahr. Aber es gibt keine 1.000 verurteilten Täter pro Jahr. Es manifestiert sich eine Kultur der allgemeinen Zustimmung. Das betrifft Privatpersonen genauso wie staatliches Personal. Es ist nicht das Werk eines Einzelnen.
 
Der Wert und die Stabilität des Rechtsstaates bemessen sich nicht daran, wie er meistens agiert, sondern daran, wie er immer agiert. Nicht in seinem Verhältnis zur Mehrheit der Bürger prägt der Staat sein Verhältnis zur Rechtssicherheit, sondern in seinem Handeln gegenüber jedem Einzelnen. Die Verlässlichkeit einer stabilen demokratischen Kultur bemisst sich nämlich immer und ausnahmslos am Einzelfall.


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