10 nach 8: Christina Baniotopoulou über die deutsche Sprache

 
Wenn dieser Newsletter nicht richtig angezeigt wird, klicken Sie bitte hier.

 

14.12.2017
 
 
 
 
10 nach 8


Ich leide. Ich litt. Ich habe gelitten.
 
Ist das Leben zu kurz, um Deutsch zu lernen? Für mich als Griechin war es hart, aber ich habe viel darüber verstanden, wie Sprache meine Persönlichkeit prägt.
VON CHRISTINA BANIOTOPOULOU

Griechen beim Deutschkurs in Franken © David Ebener/dpa
 
Griechen beim Deutschkurs in Franken © David Ebener/dpa
 
 

Am Anfang war das Lied. "Eins, zwei, Polizei. Drei, vier, Offizier. Fünf, sechs, alte Hex’. Sieben, acht, gute Nacht. Neun, zehn, auf Wiedersehen".

So betrat ich singend im Alter von drei Jahren das Universum der deutschen Sprache. Aber bevor ich noch weiter über meinen unaufhörlichen Kampf mit Deutsch erzähle, muss ich zuerst ein paar Details meiner Biografie erwähnen.

Ich bin in Thessaloniki geboren und aufgewachsen. Meine Mutter- (und Vatersprache) ist Griechisch. Dies bedeutet, dass ich es schon mit der Muttersprache nicht besonders leicht hatte. Und als ob das nicht genug wäre, trafen meine Eltern damals eine sadistische Entscheidung.

Da sie beide mit 18 Jahren versuchten, Deutsch zu lernen und dabei naturgemäß sehr zu kämpfen hatten, musste ich schon im Alter von drei Jahren die Phase der sprachlichen Unschuld verlassen.

Und so trat Frau Irene in mein Leben. Sie war eine junge Griechin, geboren und aufgewachsen in Frankfurt, die wegen ihrer Sehnsucht nach der Sonne und einer Affäre lieber in Thessaloniki leben wollte und dort kleine Kinder – wie mich – mit deutschen Artikeln, Verben und Adverben quälte und damit gutes Geld verdiente. Das erste Wort, das sie mir beibrachte, war "Geripptes". Ein Apfelweinglas auf Frankfurterisch. First things first.

Nach Frau Irene kamen Frau Fotini, Frau Antigone und Frau Lia. All diese netten Damen teilten sich einen gemeinsamen Fetisch, nämlich die regelmäßigen und unregelmäßigen Verben. Ich leide. Ich litt. Ich habe gelitten. Mit 16 bestand ich dennoch die Prüfungen für das große deutsche Sprachdiplom.

Als ich sechs Jahre später nach Berlin zog, merkte ich rasch, dass das schwere Papier des Goethe-Instituts natürlich von Vorteil war, es garantierte mir aber nicht automatisch eine problemlose Assimilation im Land. So suchte ich eines Tages im Supermarkt einen Bund Petersilie. Ich konnte ihn nicht finden. Auch wusste ich damals nicht, was Petersilie auf Deutsch heißt. Ein Smartphone mit Übersetzungs-App besaß ich nicht. Ich versuchte der Verkäuferin zu beschreiben, dass ich eine Pflanze mit kleinen grünen Blättern bräuchte. "Kaktus?", fragte sie. Erfolglos ging ich nach Hause. Die Wut piekste mich wie ein kleiner Stachel.

"Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt", schrieb Wittgenstein im Tractatus logico-philosophicus. Man kann seinen Aphorismus optimistisch lesen. Solange es ein Wort für etwas gibt, gibt es auch keine Grenzen des Denkens. Es gibt aber auch eine andere Deutung, die der Realität des Wechsels zwischen zwei Sprachen um einiges näher kommt. Wenn mir das Wort fehlt, fehlt mir auch der Gedanke. Und weil mir der Gedanke fehlt, wird eine Mauer errichtet. Eine intrapsychische Mauer genau genommen, die nicht selten zur Hemmung und zum Rückzug führt.

So entschied ich mich zu schweigen

Während der letzten großen sozioökonomischen Krise in Griechenland war ich hier zigmal in hitzige Diskussionen verwickelt. Es ging um die Schuld des Landes, die Rolle Europas und um all die Aspekte dieses aus abstrakten Begrifflichkeiten bestehenden theoretischen Konstrukts. Ich zeigte mich kämpferisch, ich hatte starke Argumente, aber die richtigen Ausdrücke fehlten mir oft. Mir fehlte es an der Schärfe des präzise gewählten Wortes oder an der Kraft der richtigen begrifflichen Abbildbarkeit meiner Gedanken. So entschied ich mich zu schweigen. Es lag wohl auch an der Diktatur des Perfektionismus, die – auf Griechisch – in mir wütete. "Es kann nicht wahr sein, dass du in diesem Alter, nach all den Büchern und FAS-Feuilleton-Texten, die du gelesen hast, all den deutschen Filmen, die du gesehen hast, immer noch so gravierende Fehler machst! Bleib still, du wirst verlacht!" Und das tat ich.

Da aber jede Münze bekanntlich zwei Seiten hat (dieses Klischee gibt es auch auf Griechisch), war diese Phase meines Lebens mir zugleich eine große Lehre. Ich hatte gelernt zuzuhören. Aktiv und fokussiert. Ich hatte gelernt, auf die Nuancen der Wortauswahl und des Ausdrucks zu achten. Auf die Kontinuität zwischen den gesprochenem und den unausgesprochenen Körpersignalen Wert zu legen.

Ich beobachtete mich zugleich, wie ich mich mit beiden sprachlichen Welten identifizierte und sah das immer höher schwingende Pendel zwischen diesen beiden sprachlichen Räumen. Ich wuchs über die Übersetzung hinaus. Wer war ich auf Griechisch, und wer war ich nun auf Deutsch?

Wir Griechen lieben sprachliche Schleichwege

Griechisch ist eine reiche, melodische Sprache mit unzähligen Adjektiven, die die Griechen sehr gern benutzen. Der Maximalismus dieser Sprache besteht nicht aus rein ästhetischen Gründen. Er dient auch einem anderen Zweck: Die direkte Konfrontation ist für uns ein sehr sensibles Thema, und solange es einen mit Adjektiven und nebulösen konjunktiven Sätzen ausgeschilderten Schleichweg gibt, nehmen wir ihn und vermeiden so leidenschaftlich den Disput.

So war es auch bei mir, als ich anfing, Menschen in Deutschland näher kennenzulernen. Ich war überrascht – wenn nicht gar schockiert –, als bei einer Auseinandersetzung in einer Bar über den Neoliberalismus und die Kunst, ein künftiger Freund laut zu mir sagte: "Christina, das, was du erzählst, ist schierer Unsinn!" Ja, vielleicht hatte er recht, aber wie konnte er mir so etwas direkt ins Gesicht sagen? Und dann verstand ich. Weil er in mir eine Freundin sah, und weil er tatsächlich meine Meinung für wichtig hielt, wollte er mich mit einem Stück nackter Wahrheit provozieren und mich vielleicht von meiner in der Muttersprache verwurzelten bürgerlichen Koketterie entlasten. Cut the crap. Nicht drumherum reden.

Und das habe ich gemacht. Ich bin mittlerweile viel frecher, genauer, direkter und ehrlicher auf Deutsch geworden. Manchmal auch unhöflich, auf eine für mich immer noch erschreckende Weise. Ich denke, dass die Befreiung von dieser mit Griechisch verbundenen Pseudohöflichkeit immer noch eine provisorische ist, wie ein neues Paar Stiefel, das noch nicht so richtig passt. Natürlich bin ich das Amalgam meiner Erinnerungen, meiner Ängste und elterlichen Ratschläge. Und des ersten Liebeskummers. All diese flüstern in meinem Kopf auf Griechisch. Deutsch aber ist für mich die Sprache meiner persönlichen Befreiung. Und der Emanzipation, die niemals fehlerlos ist.

Wenn ich jetzt, nach all den Jahren, zusammen mit meinem Freund im Gemalten Haus während der Frankfurter Buchmesse einen Apfelwein bestelle, weiß ich zumindest, dass ich aus einem Gerippten trinke.

Christina Baniotopoulou, geboren 1990 im griechischen Thessaloniki, ist Psychologin. Sie lebt seit 2011 in Berlin. Gerade macht sie die psychotherapeutische Ausbildung. Sie ist Gastautorin von "10 nach 8".


Sie wollen der Diskussion unter dem Text folgen? Hier geht es zum Kommentarbereich.
10 nach 8
 
Frauen schreiben jetzt auch abends. Montags, mittwochs, freitags. Immer um 10 nach 8. Wir, die Redaktion von 10 nach 8, sind ein vielseitiges und wandelbares Autorinnen-Kollektiv. Wir finden, dass unsere Gesellschaft mehr weibliche Stimmen in der Öffentlichkeit braucht. 

Wir denken, dass diese Stimmen divers sein sollten. Wir vertreten keine Ideologie und sind nicht einer Meinung. Aber wir halten Feminismus für wichtig, weil Gerechtigkeit in der Gesellschaft uns alle angeht. Wir möchten uns mit unseren LeserInnen austauschen. Und mit unseren Gastautorinnen. Auf dieser Seite sammeln wir alle Texte, die 10 nach 8 erscheinen.