Die Wirtschaft brummt bedrohlich Täglich gute Zahlen zum deutschen Arbeitsmarkt und zur Konjunktur. Gut für wen eigentlich? Viele Arbeitnehmer stellen fest, dass ihr Job immer stressiger wird. VON BERNADETTE CONRAD |
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| | Sechstagewoche in der Bäckerei? Da vergeht einem der Spaß am Kundenkontakt. © Jan Woitas/dpa |
Beim Brötchenholen wunderte ich mich. "Guten Tag, meine Liebe", begrüßt mich die Verkäuferin unten im Kaufhaus meist mit einem herzlichen Lächeln. An diesem Tag aber packte sie trübe die Brötchen ein und auf meine Frage nach ihrem Ergehen schüttelte sie müde den Kopf. "Sieben Wochen ohne richtiges Wochenende", sagte sie, "immer nur der Sonntag frei." Sechs Tage die Woche ohne Tageslicht zu arbeiten, da ging auch ihr die Freude aus.
Ein paar Tage später kaufte ich am Bahnhof meine Fahrkarten für die Weihnachtsreisen. Die Dame am Schalter war kompetent und freundlich, nur wunderte ich mich über die endlos lange Zeit, die sie brauchte, um meine Fragen nach Preisvergleichen und verschiedenen Abfahrtszeiten zu beantworten. "Jetzt reicht's", warf sie ihrer Kollegin zu, die sofort wusste, worauf sie sich bezog. Sie änderte irgendetwas an den Computereinstellungen und dann ging es plötzlich zackig. Auf Nachfrage erklärte sie mir, sie habe versucht, meine Fragen mit dem neuen System zu bearbeiten, das im neuen Jahr aufgeschaltet würde. Dies sei aber deutlich unpraktischer in der Handhabung. Ich blickte auf die Wartenden hinter mir. "Die Schlangen werden also in Zukunft noch länger?", fragte ich sie und sie nickte: "Davon können Sie ausgehen." "Warum denn dann die Neuerung?", wunderte ich mich. Sie seufzte. Man wolle neue Kolleg/innen schnell einarbeiten können, erklärte sie mir. Das alte System habe eine längere Einarbeitungszeit gebraucht und das sei mit den Anforderungen des zukünftigen Arbeitsmarkts nicht mehr vereinbar. "Aber wenn die da oben wüssten, wie es hier am Schalter zugeht, hätten sie diese Änderung nie eingeführt", versicherte sie mir.
Ich musste an das Gespräch mit einer Technikerin vom Radio vor ein paar Monaten denken. Eine gut ausgebildete Frau, seit Jahrzehnten in Radioproduktionen tätig. Seit Kurzem aber sollten die Journalisten ihre Beiträge auch technisch "selbst fahren". Der Stress einer eigentlich fachfremden Zusatzleistung für die Journalisten, die Frustration der Technikerin, ihrer Kernkompetenz beraubt zu werden: Beide Seiten waren entgeistert.
Die Techniker sollten nun mit Digitalisierungen, Podcasts, Hintergrundarbeiten beschäftigt und irgendwann vielleicht überflüssig werden? Die Vorgesetzten, von denen diese Veränderungen ausgingen, seien selbst gar nicht vom Radiofach, wurde mir erzählt; keine Hörfunkpraktiker, sondern Manager. Zuerst, hatte die Technikerin erzählt, seien sie und ihre Kollegen wütend gewesen. Frustriert. Wo war die Wertschätzung für ihren Beruf geblieben? "Und irgendwann denkt man dann: Reiß' einfach die letzten Jahre bis zur Rente runter, egal. Die Zeiten, in denen man die Arbeit geliebt hat, sind eben vorbei." Und was bedeutet das für zukünftige Hörfunktechniker?
Dies waren zufällige Beobachtungen im Herbst dieses Jahres. Zufälle, über die ich allerdings etwas genauer nachdachte, seit ich in diesem letzten Monat 2017 allmorgendlich Nachrichten aus dem Radio hörte, in denen die hervorragende Konjunkturlage in Deutschland bejubelt wurde.
Dass meine eigene professionelle Existenz immer auf dünnem Eis stattfand, daran war ich seit 25 Jahren Freiberuflichkeit in der klassisch schlecht bezahlten und seither dramatisch veränderten Branche des (Kultur-)Journalismus und Literaturbetriebs gewöhnt. Bei einer der größten Tageszeitungen im deutschsprachigen Raum hatte ich im Laufe von zwanzig Jahren freier Mitarbeit nicht weniger als vier Honorarkürzungen hinnehmen müssen. Nachfragen wurden abgewehrt; entweder ich schluckte die Kröte oder konnte die Mitarbeit niederlegen. Aber dass sich nun zunehmend auch in den verschiedensten Angestelltenberufen um mich herum Verschärfungen ereigneten, die den Leuten das Arbeiten erschwerten und das Vertrauen in jene Strukturen und Sicherheiten, auf die sie ja gebaut hatten, erschütterten – das nahm ich erst seit Kurzem so geballt wahr.
Von morgens bis abends "geratet"
Wie passten diese Erfahrungen zu dem, was mir aus dem Radio allmorgendlich entgegenschallte? War das, was die Leute da beschrieben, der Preis für den "guten" Zustand der deutschen Wirtschaft? Und was hieß "gut"? Wenn Berufsprofile sich in einer Weise verändern, dass Leute ihre Kompetenzen verschleudern oder aber sich in einer absurden Weise überanstrengen müssen, mit der logischen Folge von Frustration und Qualitätsverlusten – für wen ist das dann gut?
Ich begann, gezielt herumzufragen. Eine Frau, seit vielen Jahren bei einem großen Unternehmen angestellt, erzählte mir, dass sie und kürzlich das Angebot erhalten habe, via App Feedback von Kollegen einzuholen. Ein Rating, auf gut Amerikanisch. Noch sei das Ganze freiwillig, erzählte sie. Aber vermutlich doch der Einstieg zu mehr? Während sie erzählte, stiegen in mir Assoziationen auf zu jenen Zukunftsszenarios auf dem Arbeitsmarkt, wie man sie gerade in Dave Eggers' The Circle oder der Serie Black Mirror sehen kann: Von morgens bis abends geratet, also via Gesichtserkennung bewertet, werden die Arbeitenden dort auf das reduziert, was sie im Spiegel ihrer Umgebung sind. Wie viel Neid und Eifersucht, Intrige und Bösartigkeit in solche Ratings eingehen, kann man sich leicht vorstellen – kurze, bewertende Statements mit teils schwindelerregenden Konsequenzen.
In Süddeutschland erzählte mir eine ebenfalls langjährig tätige Psychiatrieschwester von den Veränderungen an ihrem Arbeitsplatz. Der Zwang zur Selbstfinanzierung der Kliniken übersetzt sich für die Mitarbeiter in einen Zwang zu hohem Dokumentierungsaufwand, alles unter Zeithochdruck, alles "auf Kosten der Arbeit am Menschen", beschrieb sie. "Das klappt eigentlich nur mit Robotern als Personal: effizient, wenig anfällig, austauschbar." Und dass ihren ärztlichen Kollegen immer weniger Zeit zugestanden würde für das Patientengespräch.
Zerreißprobe für die Liebe zum Job
Da würden aus vorher 25 Minuten dann schnell mal 15. Über den Druck auf Ärzte angesichts zunehmender Ökonomisierung ihrer Arbeit hatte ich von einem Freund gehört, der als leitender Kardiologe in einer kleinen Klinik seine Arbeit geliebt hatte. Inzwischen war die ganze Abteilung umstrukturiert worden; stetig war die Zeit geschrumpft, die er Patienten widmen konnte. Eine Zerreißprobe für die Liebe zu Beruf. Die Psychiatrieschwester jedenfalls wollte zurück in die Tagesklinik: zurück zum Menschen. Deshalb habe sie ihre Arbeit ja schließlich mal gewählt.
Wer wählt heute? Und was bekommt man überhaupt für diese vielfältigen Zumutungen? Mehr Geld jedenfalls nicht. Besteht vielleicht die einzige Belohnung darin, weiter arbeiten zu dürfen? Mit der Angst vor Arbeitsplatzverlust kann man Menschen immer gut in Schach halten. Eine langjährige Führungskraft in der freien Wirtschaft, die ich nach ihrer Meinung frage, antwortet nachdenklich: "Natürlich ist es immer um Optimierung gegangen, aber inzwischen hat der Zwang zur Optimierung ein Tempo erreicht, das für alle an die Grenze des Leistbaren geht. Man hat ja auch noch die komplexer werdende Welt, mit der man fertig werden muss. Manchmal kann man schon den Eindruck gewinnen, dass nur die Schnellsten und Fittesten das packen können."
Gegen den Menschen gerichtet
In diesen Wochen um den Jahreswechsel herum springen noch mehr Paketboten als sonst die Treppen in meinem Altbau rauf und runter. Gehetzte Blicke, Schweiß auf der Stirn. Zehn-Stunden-Tage und Lohndumping. Sehr wenige Mutige hätten sich kürzlich einem Streik angeschlossen, höre ich im Radio. Überhaupt seien im vergangenen Jahr 1,8 Millionen Menschen unterhalb des Mindestlohns bezahlt worden: weniger als 8,50 Euro die Stunde. Etliche Arbeitgeber tricksten, hieß es im Radio. Man ziehe Arbeitsmaterial vom Lohn ab, zum Beispiel. Oder schaffe Unterfirmen, sodass man manche der Boten dann nach dem niedriger angesetzten Tarifvertrag für Spediteure bezahlen dürfe.
Hire and Fire. Ein flexibler Arbeitsmarkt, auf dem die Forderungen an die Arbeitenden und die Kunden laufend steigen, während Kompetenzen sinken, Qualität den Bach runter geht. Ist das die "gute" Konjunktur? Wie hängen all diese Berichte zusammen?
Leute sollen mehr arbeiten, unter härteren Bedingungen, sich schärfer kontrollieren lassen und andere schärfer kontrollieren. Allen Erfahrungen ist gemeinsam, dass sie Entwicklungen beschreiben, die gegen den Menschen gerichtet sind: und zwar egal, in welcher Position er ist, ob als Angestellter, Kunde oder Patient. Gut für keinen von ihnen. Gut für wen also?
Ein Interview, das ich heute Morgen bei der BBC hörte, passt irgendwie zum Thema – auch wenn es aus Amerika kam. Die gewaltigen Steuersenkungen, die Donald Trump seiner Nation als "Weihnachtsgeschenk" machen wird, kommentierte ein amerikanischer Milliardär mit dem nüchternen Eingeständnis, dass es der arbeitenden Bevölkerung in den USA in den letzten Jahrzehnten sukzessive wirtschaftlich schlechter und schlechter gegangen sei. "Und einige wenige sind immer reicher geworden … Wissen Sie, jeder Mensch versucht ja, Selbstrechtfertigungen für das Leben zu finden, das er führt. Sehr reiche Menschen entwickeln oft das Gefühl, sie seien berechtigt, immer reicher zu werden. Und sie glauben, auf irgendeine Weise sei ihr Reicherwerden auch für die Ärmeren gut."
Da hatte ich also eine Antwort auf die Frage "Gut für wen?".
Vor ein paar Wochen besuchte ich an der Schule meiner 16-jährigen Tochter eine Infoveranstaltung mit dem Titel "Abi – und dann?". Wir Eltern wurden kompetent beraten, über die Vielfalt der Hochschulen und Universitäten, Auslandsaufenthalte und die Verwirrung um den Numerus Clausus. Auch da war manches schwierig zu verstehen – dass nicht mehr alle, die den Traumnotendurchschnitt von 1,0 haben, wirklich in jene Studiengänge kommen, die diesen Schnitt fordern, sondern nur die Besten unter den Besten. Das Thema Optimierung und den damit verbundenen Wahnsinn lernen junge Menschen heute sehr früh kennen. Auf dem Nachhauseweg dachte ich darüber nach, dass ich inzwischen von einer ganzen Menge Berufe abraten würde. Fast glaube ich, dass ich meine Tochter ermutigen werde, freie Künstlerin zu werden. Vielleicht ist das in heutigen Zeiten das Sicherste? Bernadette Conrad ist freiberufliche Journalistin und Autorin mit den Schwerpunkten Literaturkritik, Porträt und Reisereportage; tätig für das Schweizer Radio SRF2, DIE ZEIT u.a. Zuletzt erschienen von ihr "Die kleinste Familie der Welt. Vom spannenden Leben allein mit Kind" (btb 2016) und zusammen mit Usama Al-Shahmani "Die Fremde – ein seltsamer Lehrmeister" (Limmatverlag 2016). Sie ist Gastautorin von "10 nach 8".
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