Fünf vor 8:00: Der freie Gefangene - Die Morgenkolumne heute von Alice Bota

 
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FÜNF VOR 8:00
08.12.2017
 
 
 
   
 
Der freie Gefangene
 
In einem Moskauer Abschiebegefängnis bangt der Journalist Ali Ferus um sein Leben. Er soll eigentlich nach Deutschland ausgewiesen werden – darf aber nicht gehen.
VON ALICE BOTA
 
   
 
 
   
 
   
Das Leben des Journalisten Ali Ferus hat seine nächste kafkaeske Wendung weitgehend unbemerkt genommen, übertönt vom Lärm über das russische Doping und den Ausschluss von den Olympischen Spielen. Ali Ferus sitzt in einem Moskauer Abschiebegefängnis. Er hat fürchterliche Angst.
 
Ferus arbeitet für die regierungskritische Zeitung Nowaja Gaseta. Er setzt sich für Menschenrechte ein, schreibt über das Leben illegaler zentralasiatischer Migranten in Russland, die Rechte von Homosexuellen sind ihm ein Anliegen. Obwohl in Russland und in Usbekistan aufgewachsen, besitzt er keinen russischen Pass. Der usbekische war ihm vor Jahren gestohlen worden  – er hatte keine Chance, einen neuen zu beantragen.

Dafür hätte er nach Usbekistan reisen müssen, dort aber war er vor Jahren ((nach seiner Rückkehr aus Russland)) verhaftet und gefoltert worden, so sagt er, da er kein Spitzel sein wollte. Ferus floh schließlich ((auf Umwegen)) nach Russland, verließ seine Frau, lebte fortan offen schwul, nahm seinen jetzigen Namen an und begann in Moskau als Journalist zu arbeiten. Im Sommer nahm ihn die Polizei fest, die Polizisten, meint Ferus, hätten auf ihn gewartet.
 
Ein Moskauer Gericht verfügte eine Abschiebung nach Usbekistan, da Ferus gegen russische Migrationsgesetze verstoßen habe. Woraufhin der noch im Gericht versuchte, mit dem Kugelschreiber seine Pulsadern aufzuschlitzen. In einer Eilentscheidung untersagte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) bis zu seiner Urteilsfindung die Abschiebung – in Usbekistan müsste er mit Gefängnis, Folter oder gar dem Tod rechnen. In dreifacher Hinsicht: als Menschenrechtler, Homosexueller und Regierungskritiker.
 
Seither wird nach einem Ausweg gesucht, Ali Ferus in ein anderes Land zu bringen, denn Asyl hatten russische Behörden ihm verweigert. Der Weg schien gefunden: Dank monatelanger stiller Diplomatie zwischen Russen, Deutschen und dem Roten Kreuz wurden die nötigen Ausreisedokumente für Ali Ferus beschafft. Nirgends stand, dass er nicht in ein anderes Land ausreisen dürfe, wieso also nicht Deutschland? Doch es kam anders.
 
Wieder und wieder werden Ausflüchte erfunden, warum Ali Ferus doch nicht freigelassen werden kann. Plötzlich werden Fristen, die niemand kennt, angeführt, oder Ferus wird spätabends ins Gericht gefahren und wegen angeblicher Arbeitsrechtverstößen zur Geldstrafe und erneuter Abschiebung verurteilt – die dann ausgesetzt wird.
 
Hoffnung aufkommen lassen – und sie dann zertrümmern
 
Nicht nur die wirtschaftlichen Verbindungen zwischen Usbekistan und Russland scheinen sehr eng zu sein, auch der Arm des usbekischen Geheimdienstes scheint bis nach Russland zu reichen. Bei dem Verhör von Ali Ferus sollen einige Männer in zivil zugegen gewesen sein und Usbekisch gesprochen haben. Es seien "unsichtbare Kräfte", die Ali Ferus nicht aus dem Land lassen, schreibt seine Zeitung Nowaja Gaseta. Denn die Bemühungen sind da, durchaus auch auf der russischen Seite. Doch werden sie ausgebremst.
 
Dieses Jahr war für den Journalismus in Russland ein schweres: Eine Reporterin der Nowaja Gaseta, Jelena Milaschina, musste das Land vorübergehend verlassen, nachdem sie über die Folter von Schwulen in Tschetschenien berichtet hatte und Morddrohungen bekam. Der 73-jährige Journalist Nikolaj Andruschtschenko aus Sankt Petersburg wurde zusammengeschlagen und starb an seinen Verletzungen. Julia Latynina und Ksenia Larina, die für die Zeitung Nowaja Gaseta und den Radiosender Echo Moskwy arbeiten, haben Russland ebenfalls verlassen, nachdem sie und ihre Familien bedroht und angegriffen wurden. Der stellvertretenden Chefredakteurin des eben selben Senders rammte erst vor einigen Wochen ein Mann ein Messer in den Hals. Tania Felgengauer überlebte das Attentat mit viel Glück.
 
Wann Ali Ferus freigelassen wird, ist ungewiss. Vielleicht dann, wenn sich die Kräfteverhältnisse klären. Vielleicht, wenn der EGMR entschieden hat. Es gehe ihm nicht gut, sagt Ferus' Freund. Er habe Angst um sein Leben – und wenn sie ihn doch abschieben, wie immer wieder angekündigt? Wenn sie ihn das nächste Mal, wieder ohne die Anwälte zu benachrichtigen, wegbringen, aber dieses Mal nicht zum Gericht, sondern zum Flughafen?
 
Sein Körper leidet, die Psyche leidet, die Angst wirkt. Er liest viel, sagt Ali Ferus am Telefon. Mit den Mitinhaftierten verstehe er sich gut. Er hat eine Reportage über das Leben dieser Gestrandeten geschrieben, die Nowaja Gaseta veröffentlicht hat. Er wartet, bis er mit seinem Freund Pavel ein gemeinsames Leben beginnen kann, in Deutschland, Arbeit haben sie für ihn schon gefunden, die Flugtickets sind gekauft.
 
Das Schwierige, sagt Pavel, sei die Hoffnung. Sie hatten die Flüge erst für den 3. November gebucht. Dann für den 22. November. Dann für ein anderes Datum, welches, das traut sich der Freund mittlerweile nicht mehr zu sagen. Ferus ist aus Usbekistan vor Folter geflohen, aber sie haben eine andere Art der Folter gefunden, meinen die Kollegen von der Nowaja Gaseta: Hoffnung aufkommen lassen – und sie dann zertrümmern.   
 
   
 
   
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Fünf vor 8:00 ist die Morgenkolumne von ZEIT ONLINE. An jedem Werktag kommentieren abwechselnd unter anderem Michael Thumann, Theo Sommer, Alice Bota, Matthias Naß, Martin Klingst und Jochen Bittner.