10 nach 8: Cemile Sahin über Kurden

 
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30.12.2017
 
 
 
 
10 nach 8


Verrückt vor Sprachlosigkeit
 
Was macht es mit einem Menschen, wenn ihm seine Muttersprache verboten wird? Viele Kurden mussten erleben, wie Worte zu einer unüberwindbaren Grenze wurden.
VON CEMILE SAHIN

Wie geht man mit dem Verlust einer Sprache um? © Zach Guinta/unsplash.com
 
Wie geht man mit dem Verlust einer Sprache um? © Zach Guinta/unsplash.com
 
 

"Was sich überhaupt sagen lässt, lässt sich klar sagen, und wovon man nicht reden kann, darüber muss man schweigen", schrieb Wittgenstein in seinem Frühwerk Tractatus logico-philosophicus. Wortwörtlich gemeint, aus Wittgensteins Kontext gelöst, frage ich: Was passiert, wenn man nicht mehr reden kann und gezwungen ist, zu schweigen?

Meine Eltern sind Kurden aus dem Osten der Türkei und kommen aus einer Stadt, die sich kurdisch Dersim nennt. Seit ich klein bin, verknüpfe ich dieses Wort mit dieser Stadt. Doch Dersim wurde unbenannt, in das türkische Tunceli, was "Eiserne Faust" bedeutet. Zwischen 1937 und 1938 ließ Mustafa Kemal Atatürk, liebevoll "Vater der Türken" genannt, dort ein Massaker an den überwiegend alevitischen Kurdinnen und Kurden ausüben.

Während des sogenannten Dersim-Aufstands wurden zahllose Menschen getötet. Dies sind die Berichte, die ich in meiner Kindheit hörte:

Person A: Ich habe mein Kind im Fluss ertränkt. Aus Angst vor den Soldaten. Der Fluss war rot. Dann sah ich, wie meine Schwester die Klippe runtersprang und im Wasser aufklatschte.
Person B: Sie quetschten Männer und Frauen in eine Höhle. Drückten sie alle rein. Wie Tiere. Vieh. Und zündeten sie bei lebendigem Leibe an. Die Soldaten lachten, aber in der Höhle brannten Menschen. Der Geruch verfolgt mich immer noch. Ich wache nachts auf und denke, ein Mensch brennt wieder.
Person C: Ich lebe, aber ich bin nicht entkommen.

Wer sich retten konnte, ist geflohen. Kinder wurden von ihren Eltern getrennt und in die Westtürkei deportiert, um neuprogrammiert als türkische Kinder aufzuwachsen. Und irgendwann musste auch die kurdische Sprache weichen.

Meine Eltern sind Anfang der Neunziger nach Europa geflohen. Hier bin ich geboren. Die Flucht ist ein Privileg, aber sie ist auch eine Not, unerträglich, sie reißt Löcher auf.Man wird hohl. Aber man kommt auch zu dem Schluss, dass es nicht anders geht. Meine Eltern durchlebten jeden Tag einen besonderen Albtraum. In Europa, mit der Angst im Rücken, haben sie sich auch der kurdischen Sprache entledigt. Ich spreche kein Kurdisch, aber ich spreche Türkisch, auf einmal war das meine neue Muttersprache. So einfach ist das Leben.

Wie geht man mit dem Verlust einer Sprache um? Mit der Sprache, die man kennt, in der man früher sein Leben ausgedrückt hat? In der man gedacht, gefühlt, gegessen und geliebt hat? Ein halber Fleck im Osten der Türkei wurde mundtot gemacht. Vom Leben wegradiert. Mund und Rachen gleichzeitig gestopft. Damit kein einziges Wort mehr herauskommt. Sprachst du Kurdisch, warst du Kurde, ein Bergtürke, ein Volksverräter. Keiner wollte sterben. Stattdessen sind viele ins Schweigen gefallen.

Hauptrolle in einem Stummfilm

Man ist verrückt vor Sprachlosigkeit oder fühlt sich wie im Koma. Die Sprache im Inneren wird zum Problem, weil sie nicht mehr nach außen treten darf. Am Anfang hatte die Sprache keine Grenze. Höchstens eine eigene, selbst auferlegte Grenze, wenn einem die Worte fehlten. Aber plötzlich wurde sie zu einer Grenze. Man war ausgesperrt, stand auf der anderen Seite des Sagbaren, fühlte sich vertrieben aus seinem Haus, in das man nicht mehr hineindurfte.

Lektion eins: Ich ersticke an meinen Worten. Und wenn ich nicht an ihnen ersticke, dann verraten sie mich. Und wenn sie mich nicht verraten, dann erhängen mich meine Worte. Ich kenne viele, denen die Sprache gänzlich abhandengekommen ist. Viele, die einfach verstummt sind. Sie öffnen den Mund und beim Öffnen des Mundes bleibt nur ein Röcheln. Darüber muss ich schweigen.

Lektion zwei: Deine Worte haben keine Bedeutung mehr. Dieser Verlust fand nicht nur im politischen Leben statt, er geschah in allen Bereichen. Man verkümmerte als Sprachloser. Es wurde gekocht. Und man schwieg. Es wurde Tee getrunken. Und man schwieg. Man biss sich auf die Zunge, wenn das kurdische Wort sich dennoch aus Gewohnheit seinen Weg bahnte. Dann schwieg man hinterher besonders schamvoll. Natürlich wurde immer noch hinter verschlossenen Türen Kurdisch gesprochen, aber es zog sich ein Riss durch die Gesellschaft: zwischen Sprechen und Nichtsprechen.

Lektion drei: Ein Vater liebt sein Kind nicht mehr, denn ein Vater hat keine Worte mehr, die aus ihm sprechen. Ein Vater sagt seinem Kind nicht mehr, dass er es liebt. Ein Vater vergeht mit der Zeit ohne Sprache. Ein Vater klagt, und ein Kind klagt, aber keiner von beiden kann erzählen, denn die Wörter sind Bomben. Ein Vater will sein Kind nicht in die Luft sprengen. Ein Vater bringt seinem Kind nicht die Sprache bei, in der er aufgewachsen ist, und ein Kind bleibt verschlossen in einer anderen Sprache.  

Lektion vier: Die Sprache wird zu einem Gegenstand, der in der Glasvitrine steht. Ein Gegenstand, der nur beäugt wird, gegart im Schweigen, bis er ganz weich ist, bis man denkt: Mein Gegenstand ist schön und sicher. Da explodiert nichts. Dennoch schließt ein Vater die Vitrinentür zweimal ab. Sicher ist sicher. Bleib bei mir, meine Sprache, im Hals mein Schweigen.

Lektion fünf: Man spielt die Hauptrolle in einem Stummfilm. Die Sprache wird zu Bildern. Großflächig wie ein Feuer. Man ist Publikum und Hauptdarsteller zugleich. Dann spielt man und verwandelt sich in die Rolle, hastig, wie ein Ertrinkender im Tigris, im Euphrat, und will der Welt sagen: Seht her – so viel kann ich denken, ohne zu sprechen, und auch wenn ich ertrinke, tue ich es wortlos. Die Scham ist aufgebraucht. Damit beginnt und endet, worüber man nicht sprechen kann.

Es ist schwer, sich vorzustellen, welches kollektive Trauma dem Osten der Türkei widerfahren ist. Ich bin froh, dass meine Eltern gegangen sind. In Europa haben wir die Sprache wieder ausgegraben.

Cemile Sahin ist Künstlerin. Sie ist Gastautorin von "10nach8".


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