Freitext: Viktor Martinowitsch: Der Drachenbezwinger

 
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11.12.2017
 
 
 
 
Freitext


Der Drachenbezwinger
 
 
Vom Staat erwartet man in Russland nicht Politik, sondern Wunder. Wahlen sind nur Schaukämpfe. Der Sieger steht vorab fest. Deshalb ist Putin so mächtig und so beliebt.
VON VIKTOR MARTINOWITSCH

 
© [M] Alexander Zemlianichenko/Pool / Reuters
 
Russland ist literaturfixiert. Über die Haltung der Amerikaner zu ihrer Regierung informiert man sich am besten in Fernsehen und Internet, über die der Vietnamesen auf dem Basar, über die der Deutschen am Stammtisch. In Russland erfährt man im Fernsehen nur, was die Regierung von sich hält, auf dem Basar wird eingekauft und weiter nichts, und in der Bar sind nach alter Tradition seit Iwan III. Diskussionen über Politik tabu. Dafür gibt es die Küchengespräche, zu denen man aber erst mal eingeladen werden muss. Doch seit Gogols Zeiten finden sich sämtliche Antworten auch in der hochwertigen Belletristik.
 
German Sadulajews jüngster Roman Iwan Ausländer ist seiner Form nach eine Mischung aus Lermontows Ein Held unserer Zeit und einem Traktat über den Hinduismus. Als Erzähler tritt ein Sanskrit-Dozent auf, der sich in Moskau den „Weißband-Protesten für faire Wahlen anschließt. Als Hinduismusexperte nimmt er dabei die dramatische Diskrepanz zwischen dem Pathos der Demokratiebeschwörungen und der Verfasstheit Russlands wahr, dem Wesen der Staatsmacht. Als er beobachtend durch die Wohnungen zieht und feststellen muss, dass die Leute aus freien Stücken wieder und wieder für Putin stimmen, hat Ausländer seine Erleuchtung.
 
Die Kaste der Problemlösungsmanager, so geht ihm auf, wird nur in Ländern gebraucht, wo die Probleme auf Augenhöhe der Menschen liegen. In Russland erwartet man aber von der Staatsmacht keine Straßenbauprojekte, sondern Wunder. Nicht mehr und nicht weniger. „Wo Landschaften nicht erschlossen und nicht zu verwalten sind, wo Überleben und Wohlergehen irrationalen Faktoren unterliegen, wird die Staatsmacht zum Heiligtum. In der Welt der Antike galt dies überall, heute beispielsweise noch in Russland mit seinem riesigen, schlecht erschlossenen, dünn und ungleichmäßig besiedelten Raum. Der Mensch braucht keinen König, keinen heiligen Alleinherrscher, der ihm die Müllabfuhr organisiert und die Halunken abschreckt. Das können auch Manager, Dorfälteste und Sheriffs besorgen. Für die menschlichen Dinge genügt eine menschliche Regierung.“ In Russland habe der Monarch aber für ein gutes Klima, reiche Ernten und traumwandlerische Erfolge bei Handelsgeschäften und Kriegszügen zu garantieren und natürlich für einen guten Ölpreis.
 
Das heilige, magische Ritual
 
„Über all dies muss sich der König mit jenen Mächten verständigen können, die der Mensch unmöglich kontrollieren oder rational erfassen kann, er hat mit dem Göttlichen zu kommunizieren“, stellt Sadulajews Held fest. Im weiteren Handlungsverlauf wird deutlich, wie Ausländer zu Wahlen steht. Könige, die mit göttlichen Mächten zu tun haben, werden ja nicht gewählt. Und nun soll es plötzlich Wahlen geben. Alle sechs Jahre. Das Wahlritual, so begreift der Erzähler, ist in Russland nichts weiter als eine geschickt kaschierte symbolische Opfergabe. Wer gegen den König opponiert, der seinen Untertanen das Wunder unerklärlichen Wohlergehens geschenkt hat, macht sich selbst zum Opfer und zieht in einen Kampf, der für ihn nur mit Niederlage und Strafe enden kann.
 
Sadulajew vergleicht Wahlen in Russland mit dem Kampf Indras, des Gottkönigs aus dem Rigveda, gegen den Drachen Vritra. Vritra, der Chaos-Dämon, wird sich wieder und wieder auf den König stürzen, wird Indra wieder und wieder fast besiegen, um im letzten Moment doch noch unterzugehen und so die Größe der Gottheit zu untermauern. Wahlen in Russland sind ritualisiertes Theater mit immer neuen Besetzungen für die Drachenrolle. Manchmal (so geschehen zwischen 2008 und 2012) nimmt selbst Indra eine andere Gestalt an, aber trotzdem ist allen klar, dass Medwedjew nicht Vritra ist.


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