10 nach 8: Jule Govrin über Onlinedating

 
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09.12.2017
 
 
 
 
10 nach 8


Das Kalkül mit der Lust
 
Auf Dating-Websites gibt es diverse Wahlmöglichkeiten für sexuelle Orientierung. Ist das progressiv? Bedingt. Vor allem soll Begehren der Marktlogik unterworfen werden.
VON JULE GOVRIN

Begehren lässt sich nicht durch Kategorisierung bemessen. © Jake Davies/unsplash.com
 
Begehren lässt sich nicht durch Kategorisierung bemessen. © Jake Davies/unsplash.com
 
 

Wer sich heute durch Profile auf Dating-Websites klickt, mag sich an die Freundschaftsbücher erinnert fühlen, die man in den neunziger Jahren auf Schulhöfen herumreichte und in die man beflissen Lieblingsessen und -Farbe eintrug. Oder man denkt an Bewerbungsunterlagen und das Bemühen, seine eigenen Qualitäten und Fähigkeiten im Format eines standardisierten Lebenslaufs in die ökonomisch präsentabelste Form zu bringen. Während die Standardfragen auf Dating-Websites, welche Vorzüge man habe, wie man seine Freitagabende verbringe, Spielraum für den Versuch einer individuellen Antwort lässt, findet sich am Rand ein Schaukasten mit den harten Fakten zu Nutzerin und Nutzer: Alter, Religion, Ausbildung, will Kinder, mag Katzen, spricht Deutsch, Englisch, Spanisch, raucht nicht, drinks socially. Sexuelle Ausrichtungen: heteroflexibel, sapiosexuell, demisexuell.

Die Logik der Selbstvermarktung wirkt auf Dating-Websites wie Tinder und OkCupid weniger als Pflichtübung wie bei der Bewerbung, sondern ähnlich wie das Selbstdarstellen auf Facebook als sanfter Zwang, dem man sich mit Vergnügen hingibt. Aber wie wirken diese eigenartigen Mechanismen der standardmäßigen Kategorisierung und Katalogisierung, wenn es um etwas so Intimes wie das eigene Begehren geht?

Die Vermessung des Sexuellen

Der modernen Vorstellung von Sexualität ist, wie Michel Foucault gezeigt hat, immer schon der Drang zum Messen und Bewerten eingeschrieben. Die zeitgenössische Annahme, dass das sexuelle Verlangen unsere Identität bestimmt, hängt eng mit dem aufklärerischen Wunsch zusammen, den Menschen wissenschaftlich zu erfassen. In einem der Gründungswerke der Sexualwissenschaft, der 1886 erschienenen Psychopathia sexualis von Richard von Krafft-Ebing finden sich penibel aufgelistet und kategorisiert sämtliche dem Forscher bekannte Perversionen.

Dieser Versuch einer Vermessung der Lüste hat sich in vielfachen Formen bis in unsere Gegenwart fortgesetzt. Was vermessen wird, wird auch bewertet: Wurden die Perversionen bei Krafft-Ebing noch pauschal moralisch abgewertet und als krank abgetan, sind mittlerweile manche sexuelle Spielarten salonfähig. Spätestens seit Fifty Shades of Grey sind Fesselspiele auch im bürgerlichen Ehebett akzeptabel, während andere sadomasochistische Praktiken nach wie vor als obszön gelten. Ob es nun um moralische Bewertung, wissenschaftliche Vermessung oder wirtschaftliche Wertschöpfung geht, das Vermessen und Bewerten ist der Sexualität inhärent. Der aufklärerische Drang, das geheime Wesen des Menschen und dessen sexuelle Wünsche bis ins Detail wissenschaftlich zu erfassen, hat die Marktwirtschaft dazu inspiriert, aus der Liberalisierung der Sexualverhältnisse Mehrwert zu schöpfen.

Begehrensökonomische Rechenspiele

Solche ursprünglich wissenschaftlich inspirierte Kategorisierung und Bewertung des Sexuellen bietet die ideale Voraussetzung für einen Markt des Sexuellen. Der Zeitsprung von der Psychopathia Sexualis bis zu Tinder oder OkCupid scheint weit, und dennoch zeugen die Profile der Dating-Websites ebenfalls von der Tendenz, sexuelle Präferenzen und Spielweisen akkurat aufzulisten. Sollen die Einordnungen den erotischen Tauschhandel vereinfachen, damit nach Prinzipien des match-making präzise ermessen wird, wie kompatibel die diversen Vorlieben sind? Da man sich in unserer spätkapitalistischen Gegenwart selbst als Ware und gleichzeitig möglichst individuell präsentiert, sollen Adjektive, die das Begehren ausdrücken, addiert werden, um in der Gesamtsumme die Individualität des jeweiligen Nutzers wiederzugeben. So werden Nutzer-Profile zu Waren und Lüste werden ökonomisiert.

Natürlich beschränkt sich die wirtschaftskompatible Gestaltung von Lust und Begehren keineswegs auf sexualliberale Anbieter wie Tinder oder OkCupid. Die Verquickung von Wirtschaft und Begehren ist kein neues Geschäftsmodell. Auch die romantische Liebe richtete sich an der Marktlogik aus. Die Ehe war immer schon ein vertraglicher Pakt, der die Vermögensverhältnisse zwischen Familien regelte. Dass sie seit dem 20. Jahrhundert im Zeichen von Leidenschaft steht, verschleiert nur, wie stark sie wirtschaftlich geprägt ist, auch wenn uns der Streit ums Ehegattensplitting gelegentlich daran erinnert. Prestige und finanzielle Sicherheit bilden seit jeher einen entscheidenden psychologischen Faktor bei der Partnerwahl.

Attraktivität wird zur Kapitalform

Neu an der Heiratsmarktvariante des Internetzeitalters ist, dass sie solche Marktwert-Überlegungen mit der modernen Obsession fürs Katalogisieren von sexuellen Spielarten kombiniert. Während sich Bezeichnungen wie homoflexibel und heteroflexibel noch auf die Unterscheidung zwischen homo- und heterosexuellem Verlangen beziehen, arbeiten sich Konzepte wie a-, semi- und allosexuell nicht mehr an dieser Unterscheidung ab. Bekundet asexuell ein Desinteresse an sexuellem Austausch und drückt so ein Null-Begehren aus, steht demisexuell für Menschen, die erst Verlangen verspüren, wenn sie eine Bindung zu der oder dem Anderen fühlen. Zweifelsohne ist es legitim, dass Menschen, die so empfinden, einen Begriff hierfür wählen, dennoch ist die Tatsache kurios, dass das Präfix demi quasi ein halbiertes Begehren beziffert. Hinter diesen Begriffen und dem Rechenspiel, Begehren zu halbieren, steht die Idee, dass jegliche Regung des Menschen erfassbar sei. Diese Auffassung dient dem unternehmerischen Wunsch, Nutzer und Nutzerinnen in Sozialen Medien bis ins Detail zu durchleuchten, um durch diese Datenmengen Konsumentenprofile anzulegen. 

Attraktivität und Algorithmen

Tinder verwendet zur Auswahl von passenden Partnern den desirability score. Durch diesen Algorithmus werden Nutzer und Nutzerinnen, deren Profile oft angeklickt werden, in einem Ranking erfasst und ihnen werden Profile angezeigt, die nach der quantitativen Messung des desirability score ähnlich begehrenswert sind. Noch ausgefeilter ist der Elo-Score: Wenn ein Nutzer in Kontakt mit einer Person kommt, die quantitativ als begehrenswerter gilt, übt sich das positiv auf das Ranking aus und der niedrig eingestufte Nutzer wird höher eingestuft. Solche Beispiele zeigen, wie Attraktivität zur Kapitalform wird, zum erotischen Kapital, das eine Form des kulturellen Kapitals ist.

Diese algorithmischen Arbeitsweisen prägen die Interaktion auch insofern, als die ständige Bewertung der Anderen zum Nutzerverhalten wird: Bei Tinder entscheidet ein kurzer Blick auf das angezeigte Profil, ein kurzes Wischen auf dem Smartphone, ob es sich lohnt, mit diesem Menschen in Kontakt zu treten.

Neben demisexuell und heteroflexibel findet sich auch die Bezeichnung sapiosexuell für diejenigen, die sich von intellektuell anregenden Anderen angezogen fühlen. Freundlich übersetzt drückt sich in dem Begriff der Wunsch aus, neben spannendem Sex knisternde Gespräche zu führen. Sapiosexuell lässt sich jedoch auch als Indiz für die sexuelle Hackordnung im Cyberspace auffassen, in der Menschen mit einem gewissen Bildungsgrad und entsprechendem Klassenhintergrund nur ähnlich gestellte Personen daten wollen.

Emanzipationsgeschichten des Begehrens

So kontrovers eine Bezeichnung wie sapiosexuell ist, so irreführend der Begriff demisexuell wirkt, die Idee, das eigene Begehren präzise zu benennen, folgt nicht nur wissenschaftlicher Detailversessenheit und Marktlogik, sondern entspringt auch Emanzipationsgeschichten: Die feministischen, schwul-lesbischen und queeren Bewegungen haben Begehrensweisen benennbar gemacht, die vormals verhöhnt oder verleugnet wurden. Beispielsweise stellt der politisch wichtige Begriff queerdie Aufteilung von männlich/weiblich und homo/hetero infrage. Nichtsdestotrotz birgt die sexuelle Liberalisierung ihre Schattenseiten, denn der Markt wusste und weiß, Profit daraus zu schlagen.

Sex ist Kommunikation. Äußerst verwirrende und verworrene Kommunikation. Will das präzise Benennen des eigenen Begehrens den Wirren des Sexuellen entgehen? Anstatt die Grenzen, die unser Selbst von Anderen trennen, in polymorphen Perversionen aufzulösen, eine polysexuelle Ökonomie zu erschaffen und uns in Strömen unbenannten Begehrens treiben zu lassen, suchen wir immer ausgefeiltere Begriffe und Definitionen, um unsere Identität abzusichern und unserer Angst vor der Unzähmbarkeit von Begehren zu begegnen.

Gerade angesichts des aktuellen sexualkonservativen Backlashs ist es wichtig, an der Errungenschaft, uns über Lust und Verlangen auszutauschen, festzuhalten. Indessen sollten wir nicht vergessen, wie leicht sich der konsumkapitalistische Zauber der Individualität in die Erzählungen unseres Begehrens einschreibt. Bei aller desirability: Begehren lässt sich nie völlig in Worte fassen und kaum in Kategorien einfangen, in seiner Flüchtigkeit ist es uns immer ein Stück weit voraus. Zum Glück auch der Marktlogik.

Jule Govrin, geboren 1984, lebt in Berlin und arbeitet als Philosophin und Kulturtheoretikerin. Sie forscht an der Freien Universität zum Verhältnis von Begehren, Sexualität und Ökonomie und ist Autorin von "Sex, Gott und Kapital: Houellebecqs Unterwerfung zwischen neoreaktionärer Rhetorik und postsäkularen Politiken". Sie ist Gastautorin von "10 nach 8".


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