Geschichten, die gar nicht erzählt werden Die Filmemacherin Tamara Trampe kam 1950 aus der Sowjetunion nach Ostberlin. Der Krieg ist ihr Lebensthema geblieben. Eine Hommage anlässlich ihres 75. Geburtstags VON ELKE BREDERECK |
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| | Tamara Trampe wurde schon oft für ihre Arbeit als Filmemacherin ausgezeichnet, wie hier beim 43. Grimme-Preis. Aber berühmt zu sein, das wäre ihr fremd. Am 4. Dezember wurde sie 75. © Peter Bischoff/Getty Images |
Sie wohnt in meiner Nachbarschaft, jeden Tag gehe ich an ihrem Haus vorbei. Ihre letzten beiden Werke wurden auf der Berlinale gezeigt. Aber berühmt zu sein, wäre Tamara Trampe verdächtig. Ihr Film Alptraum Tschetschenien hat uns zusammengebracht. Wenn wir uns zufällig im Kiez treffen, setzen wir uns irgendwohin, rauchen eine zusammen. Ich hänge dann an ihren Lippen, weil sie wunderbare Geschichten erzählen kann. Aus den letzten 75 Jahren ihres Lebens.
Mitte November in ihrer Küche in Berlin, Prenzlauer Berg. Die Gasheizung springt an und geht wieder aus, ein vertrautes Geräusch, es ist warm und riecht nach Tabakrauch. Tamara Trampe, geboren 1942 in Russland, hat mich zu sich eingeladen, ich möchte sie zu ihrem Leben und ihrer Arbeit befragen. Das Filmen und das Leben, beides ist untrennbar miteinander verbunden.
"Natürlich habe ich Glücksmomente", erzählt sie, "aber wichtiger ist, dass ich zufrieden bin. Dass ich meine Enkelkinder gut leiden kann, meinen Sohn sowieso und seine Frau, da klopft jetzt noch das Herz, wenn er um die Ecke kommt. Dass ich einen Partner habe, mit dem ich wunderbar leben kann und arbeiten konnte. Treue Freunde. Und wahrscheinlich ist ein ganz wichtiger Punkt, dass ich mit dem letzten Film Meine Mutter, ein Krieg und ich eine Versöhnung mit meiner Mutter geschafft habe und mit mir."
Auf dem Tisch steht ein Teller mit Kuchen, Mandarinen, Weintrauben. Wir trinken Kaffee. Die allererste Geschichte, die sie mir an diesem Nachmittag erzählt, kommt nicht aufs Band: Dreimal wurde Tamara Anfang der Siebzigerjahre von der Stasi ins Restaurant Unter den Linden bestellt, die ersten Male waren es jeweils zwei Männer, die versuchten, sie anzuwerben. Beim dritten Mal schickten sie eine Frau, die ihr drohte, dass ihr Kind ins Heim käme, wenn sie eine Zusammenarbeit verweigerte. Tamaras Kopf war ganz leer, sie konnte keinen Gedanken fassen, hatte sich eingepinkelt. Am Nachbartisch saß der Schriftsteller Klaus Schlesinger, der zu ihrer Unterstützung mitgekommen war. Er trat an den Tisch und sagte: "Was machen Sie mit der jungen Frau hier eigentlich?" Er hat sie gerettet. Danach hat die Stasi sie nie wieder angesprochen. Ich schalte das Aufnahmegerät wieder ein:
"Ich bin jeden Sonntag ins Kino gerannt. Der Vorführer im Blauen Stern in Pankow kannte mich schon. Der ließ mich auch in Filme rein, in die ich noch gar nicht durfte. Oben in der Kabine ließ er mich sitzen. Und dann hab ich Die Mörder sind unter uns gesehen und war eigentlich noch ein Kind. Wenn es eine Seelenbildung gibt, dann kommt die daher."
Ihre Mutter war mit Kriegsbeginn 1941 als Krankenschwester an die Front gegangen. 1942 wurde Tamara an der Front geboren und blieb bis zur Befreiung der Ostukraine bei der Mutter, mal im Lazarett, mal bei Ammen. Mit elf Monaten brachte sie "Tomotschka" zur Großmutter in ein ukrainisches Dorf.
"Die saß jeden Abend vor ihrer Ikone auf den Knien, und ich hab ihr die Haare kämmen dürfen in der Zeit. Sie hat immer gesagt: 'Ach, Töchterchen, kannst du denn nicht auch zu ihm beten?' Und ich hab gesagt: 'Babuschka, ich weiß gar nicht, wer ER ist. Wo isser denn?' – 'Na, da oben.' – 'Wie soll ich denn zu jemandem beten, den ich nicht sehe? Mit dem ich nicht sprechen kann?' – 'Ich spreche doch auch mit ihm.' – 'Aber er antwortet doch überhaupt nicht.' So haben wir uns gezankt, bis sie dann gesagt hat: 'Dann denk dir irgendwas aus, wozu du gern beten würdest.' Und dann hab ich so aus dem Effeff gesagt: 'Zum Wind.' Und dem bin ich treu geblieben. Also wenn ich Kummer habe, dann setz ich mich irgendwohin und sage: 'Wind, hör mich mal an.' Weißte, völlig infantil." Sie lacht.
"Kommste aus'm KZ?"
Ich kenne Tamara Trampe seit zehn Jahren, wir haben beide über Tschetschenien gearbeitet. Ihr Film Weiße Raben zeigt blutjunge russische Soldaten, die aus dem ersten Tschetschenienkrieg heimkehren, tief versehrt an Körper und Seele. Der Krieg ist zu ihrem Hauptthema geworden, persönlich und künstlerisch.
"Ich war ja ein Bastard und meine Mutter wirklich zerstört durch den Krieg. Sie war nicht zärtlich. Sie konnte es nicht sein. Aber sie hat uns alle drei geliebt. Ich habe es nicht bemerkt. Ich war auch anders als die anderen Geschwister. Ein Bruder ist Busfahrer, der andere ist Truckfahrer. Ich hab noch nicht mal einen Führerschein. Ich war auch die Einzige, die immer nur gelesen und gelesen und gelesen hat. Ich habe sehr sehr sehr lange keine Tür gehabt in mir, die ich öffnen konnte, um meine Mutter als junge Frau zu sehen. Und zu verstehen, warum sie ist, wie sie ist. Das hat der Film geschafft. Wenn ich heute an sie denke, dann mit Zärtlichkeit. Und einem ironischen Lächeln. Denn sie war ja auch selbst ironisch. Ich bin zufrieden. Der wichtigste Begriff ist Frieden. Also, ich bin wirklich zum Frieden gekommen. Zu einer Ruhe. Nicht mehr die Fragen: Warum war der Krieg wichtiger als ich, warum wurde ich immer irgendwo abgegeben? Erst auf dem Dorf, nachher im Kinderheim. Warum? Diese Fragen spielen heute überhaupt keine Rolle mehr. Und das hat damit zu tun, dass ich diese Arbeit machen konnte."
Tamara Trampes Erkennungszeichen, damals wie heute, ist ihr rotes Haar. Sie sagt, es habe ihr das Leben leichter gemacht, Männer stünden bei Frauen auf rote Haare und Sommersprossen.
"Und dann war der 20. Parteitag"
"Ich habe auch Fehler gemacht, man kann sie korrigieren, dafür ist das Leben da. Manche Fehler kann man nie korrigieren, wenn du dich zum Beispiel für den falschen Mann entschieden hast." Sie lacht wieder. "Aber ich habe zwei wunderbare Männer gehabt, mit dem einen war ich verheiratet, mit dem anderen lebe ich jetzt seit 34 Jahren." Ihr fällt der Hunger ein, den kann sie nicht vergessen: "1946/47 sind wir über die Felder und haben jedes Körnchen aufgehoben."
Mit sieben war sie mit ihren Eltern und dem jüngeren Bruder aus der Sowjetunion nach Ostberlin gekommen. Dort wurde sie von anderen Kindern mit Steinen beworfen, weil sie ein Russenkind war. "Ich kam mit 'ner Glatze nach Deutschland. Ich hatte Typhus. Keine Haare. Und kam in eine Klasse, da lachten alle und sagten: 'Kommste aus'm KZ?' Das war 1950." Gerettet hat sie der Leistungssport, Staffellauf, 1960 im Olympischen Jugendkader der DDR, nachmittags raus aus dem Elternhaus, weg vom Kommunistenvater, der sie schlug. Den kleinen Bruder auf den Rasen gesetzt und gerannt. Erst lebten sie, die politischen Immigranten aus der Sowjetunion, im Heim, dann in einer Wohnung mit einem Schrank von Goebbels, ganz helles Holz, mit schwarzen Blumenintarsien.
"Wir hatten ein riesengroßes Stalin-Bild im Wohnzimmer. Er in weißer Uniform, mit allen Orden. Und dann war der 20. Parteitag mit den Enthüllungen und meine Mutter ging hin und wollte das Bild abhängen. Mein Vater: 'Nein!' Es gab einen riesigen Krach. Sie haben sich geschlagen. Dann wurde das Ding doch verbannt. Ich bin herumgelaufen und hab flüsternd gefragt: 'Was ist denn mit dem Parteitag?' Darüber wurde nicht geredet. Aber ich habe einen alten Spanienkämpfer getroffen, der hat mir alles erzählt. Welche Verbrechen es gab. Und mit 15 oder 16 habe ich angefangen, mir Bücher zu besorgen. Auf verschlungenen Wegen. Ich kannte Mandelstam – da wusste noch gar keiner hier, wer das ist – oder Babel. Für mich war die Literatur die Rettung. Auch die deutsche Literatur. Ich hab sehr früh Wolfgang Borchert gelesen, mit zwölf."
"Meine Kaderakte ist nicht in Ordnung"
Durch ihr Leben ziehen sich Brüche, ein Gefühl des Verlorenseins, aber immer auch Rettung: die Begegnungen mit Menschen, die ihr beigestanden haben. Große Namen sind darunter: Lew Kopelew, Stefan Heym, Rainer und Sarah Kirsch, Kurt Bartsch. Aber berühmte Leute hat sie gar nicht als solche wahrgenommen. Und sie hat sich getraut, in entscheidenden Momenten "Nein" zu sagen.
"Später bin ich beim Forum, einer Studentenzeitung, aus der Redaktion geflogen. Das war 68, ich sollte über Prag schreiben. Hab ich mich geweigert. Als ich dann auch noch eine Resolution gegen den Einmarsch unterschrieben habe, war ich raus. Danach war ich erst mal ein Jahr in der Psychiatrie und danach habe ich gekellnert. Da habe ich einen Regisseur und seinen Freund kennengelernt und die haben mich für 800 DDR-Mark monatlich für ein Jahr angestellt als Dramaturgin beim Arbeitertheater Eisenhüttenstadt. Über die Schiene lernte ich einen Dramaturgen kennen, der hat mich dann zur Defa geholt. Ich hab ihm gleich gesagt: Meine Kaderakte ist nicht in Ordnung, ich weiß auch gar nicht, wo die ist."
Tamara Trampe hat zwanzig Jahre bei der Defa gearbeitet, nach der Wende sind alle entlassen worden. Weil sie nicht in der Partei war, blieb sie bis zuletzt und hat das Archiv übergeben und mit einer Volontärin die Büros saubergemacht. Ab 1990 war sie freischaffend und hat fünf Dokumentarfilme gedreht. "Als Freischaffende kannst du nicht genug Geld haben, schon gar nicht, wenn du immer Dokumentarfilme gemacht hast. Aber ich komme über die Runden, arbeite noch genauso viel wie mit 60. Oder mehr. Ich leide nicht darunter, aber gerecht ist es natürlich nicht."
Was sie Russisches in sich trägt? "Die Sprache, Gerüche, Piroggen, Mais, Kaninchen, wenn meine Großmutter welches gemacht hat. Das bleibt alles. Auch ekelhafte Sachen. Ich hab es nie geliebt, aus einem großen Topf mit acht Leuten zu essen. Auf dem Dorf war das so. Da kommt der Borschtsch-Topf auf den Tisch, jeder hatte einen Löffel. Die meisten kamen vom Feld und machten chlab chlab chlab und weg waren sie wieder."
Mit ihrer Mutter hat sie immer Russisch gesprochen, die Mutter hat Deutsch geantwortet. Diese Sprache, diese Kultur lebt in ihr. Ob sie oft an ihre Mutter denkt? "Sie taucht immer mal wieder auf, nachts. Dann höre ich plötzlich aus der Küche: 'Tomotschka, vstavaj.' Dann guck ich auf den Wecker. Dann sag ich: 'Nein, Mama, es ist erst drei', und schlafe weiter." Elke Bredereck, geboren 1971 in Halle an der Saale, hat in Berlin und Moskau studiert. Sie war DAAD-Lektorin in Odessa, unterrichtet Deutsch in Berlin und ist als Reiseleiterin im Kaukasus, in der Ukraine, Litauen und St. Petersburg unterwegs. Sie hat Features für den Deutschlandfunk geschrieben und ist Gastautorin von "10 nach 8“.
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