Kiyaks Deutschstunde: Ein Land wird stumm

 
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Kiyaks Deutschstunde
20.12.2017
 
 
 
 
Was meinen Politiker, wenn sie sagen, was sie sagen? Und: Was meinen sie wirklich? Mely Kiyak sagt’s Ihnen!


Ein Land wird stumm
 
An die Stelle von Diskurs und Opposition sind in der Türkei das Dekret und die Handschellen getreten. Was ist nur passiert?
VON MELY KIYAK

Es reicht nicht zu sagen, dass die Türkei ein Unrechtsstaat ist. Ich möchte, dass man begreift, welche Art von Menschen in diesen Gefängnissen landen. Nur so kann man verstehen, dass die Türkei auf einem Weg ist, der in die Düsternis führt. Ich zähle Menschen wie Deniz Yücel zu dieser Sorte Mensch: neugierig, vorurteilsfrei, unerschrocken. Diese Attribute führen in der Türkei neuerdings auf direktem Weg ins Gefängnis. In einem Rechtsstaat gäbe es eine Anklageschrift, Beweise, Fristen. In der Türkei aber wird weggesperrt, was einem politisch nicht beliebt. An die Stelle von Diskurs und Opposition sind das Dekret, die Verlautbarung, die Handschellen getreten. Jede politische Gegenansicht, die geäußert wird, wird als persönlicher Angriff gewertet. Ein Land verliert seine vielen Stimmen. Es wird ein stummes Land.
 
Deniz lebt zurzeit in einem Land, in der ein großer Teil der intellektuellen Elite entweder inhaftiert oder geflohen ist. Deniz hat den Aufstieg der politischen Opposition genauso wie den Verlust ihrer politischen Immunität begleitet. Den Niedergang der parlamentarischen Demokratie in der Türkei als deutscher Korrespondent für eine deutsche Tageszeitung nicht verstehen, nicht recherchieren zu wollen, ist schlicht unprofessionell. Was hat es mit der Kurdenfrage auf sich? Was will die PKK, wofür steht sie, was genau ist das Ziel? Die deutschsprachigen Leser müssen eine objektive Berichterstattung bekommen, um sich ein Bild der Lage machen zu können. Sie wollen verstehen, warum ein Junge, der von unten kommt, innerhalb von wenigen Jahrzehnten ein Multimillionär werden kann? Warum können dessen Söhne und Schwiegersöhne Millionäre sein? Was ist in der Türkei genau passiert?
 
Das ist "bloß" Polizeigewahrsam
 
Angela Merkel beispielsweise ist keine Multimillionärin geworden. Sie und Erdoğan haben ihre Regierungszeit ungefähr zur gleichen Zeit begonnen. Merkels Familie hat keine Baufirmen und Aufträge in Milliardenhöhe. Sie käme nicht auf die Idee, die Immunität der Linken aufzuheben und sie einzusperren. Während sie seit 2005 in einer Regierungskoalition mit der SPD den Atomausstieg beschlossen haben, das Ende der Wehrpflicht eingeführt und die Ehe für alle, hat die türkische Regierungspartei AKP im etwa gleichen Zeitraum 105 Gefängnisse, mit vielen Zusatzgebäuden für Frauen und Kinder gebaut und es tatsächlich geschafft, 200.000 Menschen zu inhaftieren. Die Untersuchungshaft auf sieben Jahre zu verlängern. Das Internet zu zensieren, Telefone abzuhören. Die Bevölkerung ist entweder für diese Politik oder dagegen. Die, die dagegen sind, sehen täglich, dass es jederzeit jeden treffen kann. Die, die dafür sind, wissen oft gar nicht, was vor sich geht. Wie auch, ohne freie Presse?
 
Keine Ahnung, ob eine Absicht dahintersteckte. Deniz hat sich am 14. Februar auf der Polizeistation gemeldet. Ab da war er in Polizeigewahrsam, danach in Haft. Hätte er auch am 13. oder am 15. dorthin gehen können? Hat er den Valentinstag, der auf Türkisch "Tag der Liebenden" heißt, extra ausgewählt? Zuzutrauen wäre es ihm. Seitdem sitzt er ein. Wenn man die Menschen, die in den Gefängnissen verschwinden, mit dem Bild eines gewaltigen Wasserstroms vergleicht, verhält sich die Anzahl derer, die wieder herausgelassen werden, wie einzelne Tropfen.
 
Meşale Tolu, die vorgestern nicht freikam, aber immerhin aus der Haft entlassen wurde, ihr Ehemann sowie Peter Steudtner, die ungefähr einen Monat zuvor entlassen wurden, sind zusammen mit Deniz vier Menschen, die in Deutschland bekannt sind. Viele andere sind es nicht. Sie sitzen in übervollen Gefängnissen. Eine kurdische Schriftstellerkollegin erzählte von ihren Erfahrungen im Polizeigewahrsam. Zwei besonders beliebte Methoden sind das tagelange Einsperren in einem Käfig, wo nur so viel Platz ist, dass man gebückt darin verharren muss. Eine andere Foltermethode besteht darin, die ausgezogene Frau in einen Raum voller Männer zu führen. Alles Polizisten, Wärter, Verhörer, die sie psychisch erniedrigen, indem sie körperliche Merkmale verspotten, verhöhnen und anderweitig vulgär kommentieren. Das ist "bloß" der Polizeigewahrsam. Was sich in den Gefängnissen abspielt, ist kaum in Worte zu fassen. Man müsste für die vielen Arten, was man mit einem Knüppel anstellen kann, erst eine neue Sprache erfinden. Es ist "die neue Türkei".
 
Deniz kann sich nicht wehren
 
"Yeni Türkiye yolunda, daima ileri"; mit diesem Motto bewarb die AKP vor einigen Jahren zu einer Wahl ihre Vision für eine "neue Türkei", die "immer vorwärts" schreite. Aus den einstigen Underdogs der türkischen Politik, die gegen "die die oben" und gegen das "Establishment" antraten, um für die "kleinen Leute in den abgehängten Provinzen" zu sorgen, ist ein autoritärer Ein-Mann-Staat geworden. Ein Staat, in dem die Präsidentengattin mit islamischer Sittlichkeitskleidung auftritt, während die Frauen nackt ausgezogen von staatlichem Personal bis in ihre Körperöffnungen hinein begutachtet werden. Wo Kinder verhaftet werden. Wo Menschen ihrer Angehörigen, ihrer Häuser, ihrer Grundstücke, ihrer Identität, ihrer Sprache, kurz ihrer Würde und ihres Lebens beraubt werden. Wo ein Krieg im Osten herrscht, also so richtig mit Panzern und Waffengebrauch, mit Dorfsäuberungen und Vertreibungen. Der aber von niemandem so genannt wird, denn wer sollte ein Interesse daran haben, es so zu nennen? Deutschland bestimmt nicht. Denn würde man es so nennen, wäre es doch ein Wahnsinn, syrische Flüchtlinge, die vor einem Krieg flohen, in einem Land gegen Geldzahlung zu beherbergen, wo ebenfalls ein Krieg herrscht.
 
Die politisch unabhängigen Journalisten in der Türkei waren, solange es sie noch gab, mutig. Vor allem die Schriftsteller beteiligten sich mit Artikeln, Essays und Kolumnen am gesellschaftspolitischen Diskurs. Anders als in Deutschland war das in der Türkei Normalität. All das sprachen sie an, solange sie es konnten. Bis zum Schluss. Die, die es taten, taten es, weil sie wussten, dass Demokratie in Wahrheit kein Zustand ist, sondern eine Tätigkeit.
 
Sie reden beschränkt, sie denken beschränkt
 
Wie jeder autoritäre Staat ist auch die Türkei ein Land, das in Zeiten der Autokratie lauter Leute hervorspült, die es in einer Demokratie so nicht geben würde. Allein die AKP-Lobbyisten, die in Deutschland aktiv sind – womit verdienten sie ihr Geld, bevor sie spitzelten, das Internet oder die Talkshows mit Propaganda überfluten? Hört man ihrer Rhetorik zu, bemerkt man, sie reden beschränkt, sie denken beschränkt, sie sind beschränkt. Sie klingen wie Versicherungsverkäufer, die es gelernt haben, auf Bedenken, Zweifel und Kritik immer mit derselben Methode zu antworten. Wenn sie Freiheit sagen, meinen sie Verbote. Wenn sie Menschenrechte sagen, meinen sie sich. Erst seit die AKP ungeniert ihre Diktatur einrichtet, haben diese Leute eine Erwerbsbiografie. Ihr Geschäftsmodell basiert auf Einschüchterung und Korruption. Der Unterschied zwischen ihnen und den Journalisten ist: Ihnen geht es um die Verteidigung der Partei. Den Journalisten und Bürgerrechtlern geht es um die Verteidigung der Demokratie. Für uns in Europa eignet sich die Türkei vorzüglich, um abzulesen wie das geht: demokratisch gewählt ins Parlament einzuziehen und dann die Demokratie zum Verstummen bringen. Das geht ganz schnell. Der Präsident hat das innerhalb einer Generation geschafft.
 
Ich schreibe normalerweise nicht über Menschen, deren Erlaubnis ich nicht zuvor einholte. Seit Deniz' Inhaftierung schreibe ich gelegentlich über ihn. Er kann sich nicht wehren. Er kann keine Zeile autorisieren. Er kann keine Gegendarstellung schreiben. Beim Schreiben existiert die ständige Sorge, zu weit zu gehen. Wie kann man an einen Menschen und sein Schicksal erinnern, ohne ihn zu stilisieren? Verhindern, dass es wie ein Requiem klingt? Wie kann man fürsprechen, statt für ihn zu sprechen? Seine Autonomie als Autor schützen und sich doch schreibend nicht schützend vor ihn, aber an seine Seite stellen? Wie kann man seine Privatsphäre wahren und gleichzeitig durch Erzählungen zeigen, wer er ist? Nämlich ein Mensch. Kein Name. Kein Symbol. Er hat ein Recht auf seine Autonomie. Er ein Recht, dass man ihm eine Anklageschrift verliest. Sein Aufenthaltsort ist bekannt. In der Zeit, in der Deniz inhaftiert ist, hat man zu anderen Zeiten ganze Landstriche mit Straßen und Elektrizität versorgt.
 
Deniz' Haft beschämt mich oft. Ich habe keine plausible Erklärung dafür. Die anfängliche Empörung steigerte sich in Zorn, wurde zur Trauer und endet nun in Scham. Mich beschämt, dass er und viele andere in eine Situation geraten sind, in der sie sich gezwungen fühlen, sich ihn ihren Briefen aus dem Gefängnis bei Menschen bedanken zu müssen, die sich für sie einsetzen. Vielleicht aber ist es andersherum. Die in Freiheit leben, profitieren vom Kampf derjenigen, die sich für die Freiheit interessierten und dafür einen hohen Preis zahlen. Nicht sie haben zu danken. Ich danke.

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