10 nach 8: Simone Rosa Miller über soziales Klima

 
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01.12.2017
 
 
 
 
10 nach 8


Es wird frostig
 
Rechte Wärme und liberale Kälte: Anhand der Debatten über Neonazis und auch über Sexismus zeigt sich, dass der gesellschaftlichen Mitte die Empathie abhandenkommt.
VON SIMONE ROSA MILLER

Gefühlskälte als rhetorisches Mittel, um sich von den Extremen abzugrenzen, könnte ein Fehler sein. © Sonka Guina/unsplash.com
 
Gefühlskälte als rhetorisches Mittel, um sich von den Extremen abzugrenzen, könnte ein Fehler sein. © Sonka Guina/unsplash.com
 
 

Die Temperatur im Land verändert sich. Während sich die Rechten an ihren Ressentiments immer behaglicher wärmen, kühlen einige Liberale lieber ab. Diesen sozialen Klimawandel spüren manche mehr als andere. Und das hat tiefer liegende Gründe – wie man an zwei aktuell viel diskutierten Themen sehen kann: Mit Rechten reden und #MeToo.

Das Autorentrio Leo/Steinbeis/Zorn formuliert in seinem Buch Mit Rechten reden die These, rechts sei "eine bestimmte Art des Redens". Wer aber kann rechts lediglich als Redeweise interpretieren? Bestimmt niemand, der von rechten Handlungen und den Effekten rechter Sprechweisen betroffen ist. Wer sich aus der brennenden Notunterkunft flüchten muss, wer sich wegen rechter Hetze nicht mehr wohl und sicher fühlt oder wer fassungslos in das Loch eines aus der Straße gerissenen Stolpersteins starrt, würde niemals auf die Idee kommen, derzeitige rechte Phänomene seien "fast alle Formen der reaktiven Rede". Und er würde auch nicht meinen, ein Anruf bei den Wächtern – "beim Verfassungsschutz, der Polizei, der Bundeszentrale für politische Bildung, Ursula von der Leyen und der Antifa" – könnte sein Problem ganz einfach lösen.

Nun bestreiten die drei Autoren sicherlich nicht, dass es rechte Hetze und Übergriffe gibt, und auch nicht, dass sie schlimm sind. Aber ihr Buch selbst beherzigt das nicht; ihr Ansatz macht nicht klar, was Angriffe, Stigmatisierungen und Drohungen für die Betroffenen bedeuten. Deshalb rückt er die Lage der Bedrängten auch nicht ins Bild, bedenkt sie nicht als Teil rechter Phänomene. Empathie und Empörung gelten dem Autorentrio vielmehr als Indiz eines selbstgerechten Moralismus und den verorten sie nicht bei den sogenannten Nichtrechten, sondern bei den Linken. Im Bemühen, sich von linker Empörung abzugrenzen, stilisieren sie eine Form der Gefühlskälte zu liberaler Angemessenheit und Sachlichkeit.

Eine ähnlich verblüffende Kälte begegnet einem im Kontext der #MeToo-Debatte. Etwa wenn die Schriftstellerin und Kritikerin Thea Dorn in den vorgebrachten Erfahrungsberichten von sexueller oder sexualisierter Gewalt einen neuen Totalitarismus erkennen will. Auch diese Perspektive kann nur einnehmen, wer von den geschilderten Situationen und dem Leid der Berichtenden absieht; wer diese sogar indirekt verdächtigt, Unschuldige pauschal an den öffentlichen Pranger zu stellen. Kein Wunder also, dass Dorn meint, Betroffene sollten halt nicht so weinerlich sein, ihre Frau stehen und notfalls zur Polizei gehen. Genau dafür sei der liberale Rechtsstaat ja da. Fertig.

Das Individuum ohne Geschichte

Nun könnte man meinen, diese beiden Beispiele von Empathielosigkeit im liberalen Lager seien zufällig und könnten weiter nichts zeigen. Im Gegenteil: Sie sind bezeichnend. Sie können nämlich als Konsequenz eines extrem simplen liberalen Menschen- und Gesellschaftsbilds gelesen werden, in dem die Gemeinschaft nicht mehr ist als die Summe ihrer Bürger, und der Einzelne nichts weiter als ein individuelles Abbild der allgemeinen Menschheit. In diesem Bild gibt es keine Kräfteverhältnisse und auch keine sozialen Klimata, sondern allein individuelle Rechtssubjekte. Deren Freiheit endet dort, wo das Recht des Nächsten beginnt. So ergibt sich ein liberales Wuselbild aus lauter kleinen Partikeln, die sehr verschiedene Dinge tun. Und die einzige Erklärung für ihr Tun und Lassen sind die autonomen Entscheidungen im Innern der kleinen Partikel, begrenzt durch Recht und Gesetz.

Diese Gesellschaftsauffassung kennt keinen Platz für Identitäten, Zugehörigkeiten und Geschichten; für Konventionen, Normen und Strukturen. Das liberale Partikelbild entkleidet das Individuum vielmehr, nimmt ihm seine Herkunft, seine Geschichte, seine gesellschaftliche Position, sein Alter und Geschlecht. Denn das sind ihm zufolge nur zufällige, unwesentliche Eigenschaften. In Jean-Paul Sartres Worten kennt der Liberale (bei ihm "der Demokrat") "nur den Menschen, der sich überall gleich bleibt".

Wer dieses Bild zeichnet, der vergisst jedoch, dass soziales Unrecht meist jemanden adressiert, jemanden bei einer dieser unwesentlichen Eigenschaften packt, jemanden als jemanden verletzt. Hannah Arendt hat einmal gesagt: "Wenn man als Jude angegriffen wird, muss man sich als Jude verteidigen." Und das gilt auch für Frauen, Männer und Queers, für Andersdenkende und -gläubige, für (Post-)Migrantinnen, Arbeiter usw. Noch komplizierter wird es, da manches Unrecht auf komplexe Identitäten zielt, auf migrantische Arbeiterinnen zum Beispiel.

Nüchternheit könnte ein Irrtum sein

Dieses Bewusstsein für die Grammatik sozialen Unrechts gefällt manchem Liberalen allerdings gar nicht. Denn es widerspricht seiner Auffassung gleicher Subjekte zutiefst. Sartre hat in seinen Betrachtungen zur Judenfrage 1944 scharfzüngig formuliert: "Der Antisemit wirft dem Juden vor, Jude zu sein; der Demokrat wirft ihm mit Vorliebe vor, sich als Jude 'zu betrachten'." Eine ziemlich präzise Beschreibung auch heutiger Verhältnisse, wo sich manche Liberale gern über die sogenannte Identitätspolitik mokieren. 

Die große Schwäche des einfachen liberalen Gesellschaftsbildes tritt noch deutlicher zutage, wenn es um Recht und Gerechtigkeit geht. Der liberale Rechtsstaat soll vor Unrecht schützen und Recht (wieder-)herstellen. Allerdings verfasst eine demokratische Gesellschaft ihr Recht selbst. Unrecht muss also zunächst als Unrecht verstanden und anerkannt werden, bevor der Gesetzgeber gute Gesetze formulieren kann und die Gerichte gerechte Urteile sprechen können. Eine Erfahrung als Unrecht anzuerkennen, setzt aber voraus, dass man den Geschädigten mit Mitmenschlichkeit und Verständnis begegnet. Das heißt, der liberale Rechtsstaat, auf den der gefühlsarme Liberale verweist, kann nur dann gerecht sein, wenn er von empathischen Menschen bevölkert ist. Beziehungsweise wenn unablässiger Druck von selbstbewussten Gruppen ein Umdenken langsam herbeiführt und Empathie dort entstehen lässt, wo zuvor nur Unverständnis war.

Schwierig also, wenn sich nun manche dieser mit neuem Selbstbewusstsein auftretenden Liberalen in der Rolle sehen, den wütenden Rechten und den empörten Linken kühle Nüchternheit entgegenzusetzen. Man glaubt, das sei der richtige Weg, um dem weiteren Erstarken der Rechten entgegenzuwirken und die Demokratie zu verteidigen. Das könnte ein Irrtum sein.

Das Partikelbild als Negativfolie

Denn die Rechten umwerben ihre (potenziellen) Anhänger nicht mit Kälte, sondern mit Wärme. Der rechte Gesellschaftsentwurf ist das Gegenstück zum liberalen Partikelbild. Er ist das Lagerfeuer der Ursprünglichen. Dort wärmt die Glut des unkündbaren Wir; ihre Nahrung ist die gemeinsame Sprache und Tradition, die wahre Sitte und der tiefgründige Mythos. Wer es sich in diesem Kreis gemütlich macht, darf auf ewige Bande hoffen; findet Zusammengehörigkeit und vielleicht sogar Solidarität. 

Das liberale Partikelbild gilt den Rechten geradezu als Negativfolie – rationalistische Einzelne, zusammengehalten allein vom Bekenntnis zur Verfassung, grenzenloser Konkurrenz und dem Ethos des Fairplay. Eine Anordnung, die in ihren Augen zu einem moralisch verkommenen Establishment und dem Niedergang des deutschen Volkes führt.
Wer nun also glaubt, den Rechten und ihren Sympathisanten das Wasser abgraben zu können, indem man den Bedrängten und Empörten dieses Landes die kalte Schulter zeigt und sich auf gefühlsarme Nüchternheit besinnt, der wird die Rechten damit wahrscheinlich wenig beeindrucken können. Denn die, die sich am wahren deutschen Volk wärmen wollen, werden unter distanzierten Universalisten keine Heimat finden.

Während sich manche Liberale jedoch an ihrer kühlen Brise erfrischen, erwischen sie die Bedrängten damit kalt. Denn sie sind die Ersten, die den heraufziehenden sozialen Frost zu spüren bekommen. Die meisten von ihnen sind selbst wehrhaft, darum geht es nicht. Es geht vielmehr darum, ob sie Rückhalt unter ihren Mitmenschen haben oder sich allein verteidigen müssen. Denn soziale Kälte heißt vor allem, nicht auf Unterstützung zählen zu können: nicht darauf vertrauen zu können, dass andere die Last von Stigmatisierungen und ausgesprochenen Drohungen sehen und ihre Stimme dagegen erheben; nicht zu wissen, ob jemand Partei für einen ergreift, wenn man gedemütigt, belästigt oder angegriffen wird. Als Antwort auf rechte Glut ist soziale Kälte denkbar kontraproduktiv. Denn sie untergräbt das Bewusstsein, dass Unrecht nicht erst da anfängt, wo das Gesetz greift. 

Simone Rosa Miller lebt als freie Autorin in Berlin. Sie arbeitet als Kulturredakteurin beim Deutschlandradio Kultur, wo sie u.a. die Philosophiesendung "Sein und Streit" moderiert. Sie ist Gastautorin von "10 nach 8". 


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