Sind Kriminelle in Afghanistan weniger gefährdet als unbescholtene abgelehnte Asylbewerber? Das glaubt wahrscheinlich nicht einmal die Bundesregierung. Trotzdem möchte sie die einen weiterhin abschieben lassen, die anderen nicht. Emotional ist diese Ungleichbehandlung verständlich, vor allem nach dem Mord, den ein afghanischer Asylbewerber an einem fünfjährigen Jungen in Arnschwang begangen hat. Aber wenn die Bundesregierung und – vor allem – die Länder anfangen, das Asyl- und Abschieberecht nach öffentlicher Gefühlslage anzuwenden, mit einem Schuss Bestrafung hier, mit ein wenig Milde dort, dann ist das nichts anderes als Willkür, oder, je nach Perspektive, ein Mangel an politischer Entschlossenheit. Keins von beidem sollte sich ein Land mit solchen Zuwandererzahlen wie Deutschland leisten. Im Interesse aller – der Migranten, der Flüchtlinge, der Behörden und der Bürger – sind gesetzliche Klarheit, faire und zugleich möglichst schnelle Verfahren derzeit ebenso gefragt wie Konsequenz dort, wo Entscheidungen durchgesetzt werden müssen. Im vergangenen Jahr sind von 12.500 ausreisepflichtigen Afghanen gerade einmal 67 abgeschoben worden. Angesichts dieser Rate darf man fragen, ob das Gesetz eigentlich noch gilt. Sicher, jeder Abschiebefall (siehe etwa den Fall von Asef N., einem offenbar recht gut integrierten Berufsschüler in Nürnberg) birgt das Potenzial für menschliches Leid und hässliche Bilder, zumal wenn im Regierungsviertel von Kabul zur selben Zeit eine verheerende Autobombe explodiert. Und viele Betroffene werden zudem versuchen, bis zur letzten Minute Abschiebehindernisse vorzubringen, notfalls per Eilantrag ans Bundesverfassungsgericht, wie bereits erfolgreich geschehen. Ungerecht sein oder falsche Signale setzen Bloß: Die politisch Verantwortlichen, aber auch die Beamten in den Ausländerämtern und bei der Polizei werden in den kommenden Monaten und Jahren immer wieder in dasselbe Dilemma tappen. Zerren sie Afghanen in Abschiebeflugzeuge, setzen sie sich dem Vorwurf der Unmenschlichkeit aus. Lassen sie hingegen Migranten mit zweifelhaftem Bleiberecht gewähren, setzen sie damit das Signal, dass jeder Afghane, der es bis Deutschland schafft, de facto einwandern kann.
Konfrontiert mit diesen beiden schlechten Möglichkeiten, wählte die Bundesregierung gerade einen faulen Kompromiss: Die Sicherheitslage in Afghanistan soll nur überprüft, Straftäter, islamistische Gefährder und Identitätsverweigerer derweil weiter abgeschoben werden. Die einstige Einschätzung war vernünftig In Wahrheit fehlt es nicht an Fakten zur Sicherheitslage, es fehlt an der Möglichkeit zu gründlichen und damit fairen Prüfungen. Afghanistan ist seit der Stationierung der Bundeswehr vor 15 Jahren ein ständiges Aufklärungsziel des Bundesnachrichtendienstes. Wenn die Bundesregierung über die Bedrohungslage in einem Land Bescheid weiß, dann über diese. Am 2. Mai antwortete das Auswärtige Amt recht ausführlich auf eine Kleine Anfrage der Fraktion Die Linke zur "Lage der Zivilbevölkerung in Afghanistan". Asylgewährung und Einwanderung dürfen nicht weiter verschwimmen In der Bundestagsdrucksache wird die Sicherheitslage recht differenziert beschrieben, von "ausreichend kontrollierbar" in den urbanen Zentren bis hin zur "weiterhin hohen Zahl ziviler Opfer" infolge militärischer Auseinandersetzungen. Im Ergebnis kommt die Bundesregierung zu der Einschätzung, dass Afghanistan zwar ein gefährliches, kriegszerrissenes Land ist, es für eine individuelle Gefährdung aber maßgeblich sei, "ob eine Person zu einer Gruppe gehört, die gezielter Gewalt ausgesetzt ist, oder in gleicher Weise wie alle anderen Einwohner Afghanistans von einem allgemeinen Sicherheitsrisiko betroffen ist". Diese Einschätzung ist vernünftig, auch nach dem Anschlag von Kabul. Immerhin sind im vergangenen Jahr 3.300 Afghanen freiwillig in ihre Heimat zurückgekehrt. Die richtige Asyl-Antwort auf die Verfolgungssituation in Afghanistan lautet: Einzelfallprüfung. Nur, dafür fehlt es an Personal. Viele überlastete Entscheider des Bamf entscheiden sich angesichts von 127.000 Asylantragstellern aus Afghanistan allein im vergangenen Jahr offenbar für die schnelle Lösung, sprich: die Anerkennung, um die Akten vom Tisch zu bekommen. Gut die Hälfte aller Afghanen erhielt im vergangenen Jahr in Deutschland einen Schutzstatus. Im EU-Durchschnitt liegt die Anerkennungsquote nur bei 34 Prozent. Wie großzügig und damit falsch deshalb viele Prüfungen ausfallen, ist mittlerweile bekannt. In der kommenden Woche wollen sich die Innenminister der Bundesländer mit der Abschiebefrage und Afghanistan befassen. Einige von ihnen haben ebenfalls die Neigung, Großzügigkeit mit Gerechtigkeit zu verwechseln. Sie sollten einsehen, dass eben dies die Probleme nicht löst, sondern Fairness eher verhindert. Ein sachgerechter Flüchtlingsschutz hängt auch davon ab, dass Bürger wie Behörden darauf vertrauen dürfen, dass Asylgewährung und Einwanderung nicht weiter verschwimmen, sondern wieder voneinander getrennt werden. Dieses Vertrauen muss neu einkehren. |
|