10 nach 8: Petra Bergwein über sexuelle Identität

 
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30.06.2017
 
 
 
 
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Verkehr lieber später
 
Zwischen sexuell und asexuell: Ich habe lange gebraucht, um zu verstehen, dass ich demisexuell bin. Ich schlafe erst mit jemandem, wenn ich eine emotionale Bindung spüre.
VON PETRA BERGWEIN

Einfach so daten und knutschen? Wozu denn! © Anna Sastre/Unsplash
 
Einfach so daten und knutschen? Wozu denn! © Anna Sastre/Unsplash
 
 

Ein Partner, der sich aufspart, bis Mr. oder Mrs. Right auftaucht und dann nur noch Augen für diesen einen Menschen hat? Für manche mag das klingen wie die ultimative Erfüllung der schönsten Hollywood-Fantasie, für andere nach dem Albtraum einer prüden Erziehung. Tatsächlich jedoch wird auf vielen Websites das Phänomen "Demisexualität" in etwa so beschrieben.

"Demi" ist aber weder der Versuch, einem romantisch verklärten Ideal nachzueifern, noch eine moralische Entscheidung. Vielmehr verbirgt sich dahinter eine Orientierung, die ins Spektrum der Asexualität fällt. Vereinfacht ausgedrückt erfasst dieser Begriff all jene Menschen, die nur dann eine sexuelle Anziehung zu anderen verspüren, wenn sie bereits eine tiefe emotionale Bindung zu diesen aufgebaut haben. Mit dem Geschlecht hat das nichts zu tun. Auf den Begriff "demisexuell" stieß ich vor ein paar Jahren durch einen Freund, der sich als "gray ace" (also irgendwo in der Grauzone zwischen sexuell und asexuell) bezeichnet. Und ich wusste sofort: Die meinen mich! Ich las Berichte, stöberte in Foren und war unsagbar erleichtert, endlich eine Bezeichnung für diesen Aspekt meiner Sexualität gefunden zu haben, den ich nie so richtig hatte greifen, geschweige denn erklären können. Tatsächlich war es wie ein zweites Coming-Out. Ein paar Tage lang fuhr ich emotional Achterbahn, ließ vergangene Beziehungen und ambivalente Dating-Erfahrungen Revue passieren – und verstand plötzlich, warum ich mich zwanzig Jahre lang selbst in der LGBTQI-Community (in der ich doch eigentlich angekommen war) immer noch irgendwie anders oder falsch gefühlt hatte.

Dass ich nicht hetero bin, begriff ich schon im Kindergarten – auch wenn ich damals noch keine Bezeichnung dafür hatte. Während der Schulzeit schwärmte ich manchmal für Lehrerinnen oder Mitschülerinnen, sehr selten auch mal für einen Mann aus meinem Umfeld. Körperliches Begehren spielte dabei kaum eine Rolle, sondern eher der Wunsch nach Kennenlernen, Gespräch, Verständnis. Wie man jemanden allein von der Optik her – sagen wir, einen Bravo-Starschnitt – "heiß" finden kann, war mir schleierhaft; das aufgeregte Getuschel über die ach so süßen Mitglieder einer Boygroup (damals waren es NKOTB) oder den knackigen Arsch eines Schauspielers (Leonardo DiCaprio stand hoch im Kurs) fand ich einfach nur absurd. Meine Pubertät verbrachte ich im Kreis der wenigen übrig gebliebenen Nerds und Spätzünder, die sich mehr für ihre kindlichen Fantasiewelten als für Flaschendrehen und Gossip interessierten. Und ich begann, insgeheim zu vermuten, dass ich bei den anderen Mädchen einfach deshalb nicht mitreden konnte, weil ich eben nicht auf Jungs stand.

Die langen Phasen des Werbens

Mit 18 hatte ich meine erste Freundin und outete mich als lesbisch. Es folgten mal längere, mal kürzere Beziehungen, die – wenn auch mit Frauen – nach ziemlich traditionell heteronormativen Mustern abliefen. Meine Zukunft konnte ich mir in einer solchen Beziehung zwar nicht vorstellen, doch zumindest die langen Phasen des Werbens und Kennenlernens, bevor man miteinander im Bett landet, kamen mir sehr entgegen. Dass das, was ich bei meinem Gegenüber für innerstes Empfinden hielt, vielmehr den Codes einer weiblichen Sozialisierung entsprang, war mir damals noch nicht klar. Schließlich werden Mädchen seit ihrer Kindheit dazu angehalten, Sex als Ausdruck von Nähe und Liebe zu verstehen. Auf den ersten Blick scheinen sich demisexuelle Frauen perfekt in dieses Erwartungsraster einzupassen und bleiben dadurch meist unsichtbar – auch sich selbst gegenüber. Pathologisiert werden höchstens demisexuelle Männer, da diesen viel eher eine Triebbefriedigung ohne emotionale Bindung zugestanden wird; mehr noch: Es wird von ihnen erwartet, omnipotent und allzeit bereit zu erscheinen.

Je klarer mir wurde, dass serielle Monogamie auf Dauer nicht mein Ding war, desto mehr begann ich auch, meine sexuelle Identität zu hinterfragen. Die Grenzen zwischen platonischen, romantischen und körperlichen Beziehungen waren für mich schon immer fließend gewesen, und friend crushes nur allzu vertraut. Diese Verwischung der Ebenen kam mir zwar völlig natürlich vor, stürzte mich jedoch immer wieder in Verwirrung und Schuldgefühle, wenn ich auf Unverständnis oder die Eifersucht meiner jeweiligen Partnerin stieß.

Ich begann, über Polyamorie zu lesen, knüpfte neue Kontakte und entdeckte die linksalternative queere Szene. Dann zog ich nach Berlin. Eine spannende und herausfordernde Welt tat sich auf, in der ich mich politisch und intellektuell ganz zu Hause fühlte. Ich liebte die Freiheit, Sex und Beziehungen nicht nach vorgegebenen Mustern, sondern nach eigenen Definitionen leben zu können. Dennoch merkte ich schnell, dass auch hier bestimmte Codes herrschten – und die rieben sich nicht selten an meinem Fühlen und Erleben.   

Sex-positiv, poly und kinky – das sind die Schlagworte, die einem Zutritt zum innersten Kreis der coolen, hippen Berliner Queers gewähren. Insbesondere all jenen, die sich nicht als Cis-Männer definieren. Was sich vor meinen Augen vollzog, war eine Art Rückeroberung der Freiheiten, die sich früher nur schwule Männer erlaubt hatten: Jedes Wochenende mindestens einen One-Night-Stand, einen Dreier im Darkroom, Fesselspiele auf einer Play Party, und am verkaterten Sonntag noch ein paar schnelle Tinder-Dates. Wow, dachte ich: Respekt, wie Frauen hier ihre Sexualität selbstbestimmt ausleben, so slutty sein dürfen, wie sie wollen, und dafür sogar Credits bekommen. Allerdings musste ich bald auch die Kehrseite dieses Trends spüren: Wer da nicht mitmachen kann oder will, wird schnell als weniger progressiv, offen und emanzipiert angesehen – sozusagen als Antithese all dessen, was sexpositive Feministinnen proklamieren. Eine befremdliche, oft auch schmerzhafte Erkenntnis. Denn es ging ja nicht (mehr) darum, mich von einer übersexualisierten Mehrheitsgesellschaft abzugrenzen, sondern von genau der Community, in der ich mich eigentlich zu Hause fühlte.

"Heute habe ich Lust zu knutschen!"

"Ich bin doch keine 13 mehr", dachte ich im Stillen, wenn ich auf dem Weg zu einer Party von allen Seiten zu hören bekam: "Heute habe ich Lust zu knutschen!" Worin sollte der Sinn liegen, mit irgendeinem Fremden auf einer Party zu knutschen, außer um dazuzugehören oder später eine gute Story erzählen zu können? Doch auch die 25- bis 35-Jährigen, mit denen ich unterwegs war, meinten das durchaus ernst. Und entdeckten dann auch noch auf einer beliebigen Veranstaltung mindestens ein Dutzend Leute, die sie attraktiv genug fanden, um ihren Plan in die Tat umzusetzen. Während ich mich nur ratlos umschaute. Und selbst, wenn es ein- bis zweimal im Jahr doch vorkam, dass ich mich zu jemandem auf der anderen Seite der Tanzfläche hingezogen fühlte, war für mich die Vorstellung, diese Person am selben Abend aufzureißen, völlig abwegig. Kam es zu einem näheren Kontakt, verflog das anfängliche Interesse ohnehin meist schnell wieder. War ich irgendwie verklemmt? Oder einfach nur zu wählerisch? Mitleidige oder ungläubige Blicke bekam ich mehr als genug. Ebenso Ratschläge wie: Ich solle mehr trinken und/oder Drogen nehmen, dann würde das schon klappen. Aber wollte ich überhaupt, dass es klappt?

Ins Grübeln brachte mich ausgerechnet eine der Matching-Fragen auf OKCupid. Dazu aufgefordert, meinen Sex-Drive zu bewerten, blieb mir nichts anderes übrig, als "durchschnittlich" anzukreuzen – "extrem schwankend" war schlicht keine Option. Innerhalb einer Beziehung könnte ich jeden Tag mit meiner Partnerin schlafen, bin ich hingegen Single, lebe ich auch mal zwei oder drei Jahre lang asexuell, ohne etwas zu vermissen. Was allerdings nicht heißt, dass ich mich nicht nach romantischen Verbindungen sehne. Oder manchmal auch einfach nur nach jemandem zum Anlehnen und Kuscheln. Hört sich simpel an, ist aber gar nicht so leicht in einer Stadt, in der schneller Sex stets nur einen Klick entfernt, alles andere jedoch fast unmöglich zu finden ist.

Onlinedating ist geradezu unmöglich

Gerade die impliziten Regeln des Onlinedating stellen Demisexuelle vor eine schier unüberwindliche Herausforderung: Bin ich nicht bereit, mein Date nach einem Pro-Forma-Getränk direkt mit nach Hause zu nehmen, oder zumindest eindeutiges Interesse zu signalisieren, wird es vermutlich kein zweites Treffen geben. Ein paar Mal passte ich mich diesen Erwartungen an und hatte etwas mit Leuten, von denen ich dachte, sie könnten in der Zukunft möglicherweise eine sexuelle Anziehung in mir wecken. Was sich so verlogen und merkwürdig anfühlte, dass sich natürlich rein gar nichts bei mir entwickelte. Die wenigen Menschen hingegen, die mir scheinbar Zeit ließen und Raum gaben, Vertrauen aufzubauen, ohne mich mit ihrem eigenen Begehren zu überfallen, erwiesen sich im Nachhinein als hochgradig labil oder bindungsgestört. Bis ich begriff, dass Commitment Issues, Identitätskrisen und Unsicherheiten über die eigene sexuelle Orientierung nicht dasselbe sind wie Demisexualität, verging ein ziemlich holpriges Jahr voller Verwirrung und Selbstzweifel.

Inzwischen habe ich "demi" als weitere Komponente meiner sexuellen Identität akzeptiert und sehe durchaus auch Vorteile an meinen asexuellen Phasen. Während meine Freund_innen sich beklagen, zu viel Zeit mit Dating-Apps zu verschwenden, wenn die Libido verrückt spielt, oder sich auf Affären einzulassen, die sie später bereuen, kann ich mich in diesen Zeiten einfach auf mich selbst konzentrieren. Und mit etwas Glück den Wunsch nach Körperkontakt mit platonischen Kuschelfreund_innen erfüllen.

Wenn dann doch mal jemand mein Interesse weckt, hilft es ungemein, meine Demisexualität gleich aufs Tapet zu bringen. Gerade in der Queer-Community, in der auch das Thema "mono" oder "poly" schnell aufkommt, wenn sich eine Beziehung anbahnt. "Demi" und "poly" schließen einander nicht aus – im Gegenteil: Meiner Erfahrung nach hat Demisexualität ganz zentral mit einem Bedürfnis nach Vertrauen und Beständigkeit zu tun, nicht aber notwendigerweise mit Exklusivität. Sprich: In meinem Leben gibt es einen kleinen Kreis von Menschen, denen ich mich sehr verbunden fühle – emotional, geistig, freundschaftlich, romantisch, und manchmal eben auch körperlich. In einer nicht-monogamen Beziehung mit einem allosexuellen Menschen gehen die Bedürfnislagen natürlich oft auseinander, was ein hohes Maß an Kommunikation, Toleranz und Respekt erfordert. Dass für mich die Option, unverbindlichen Sex außerhalb der Partnerschaft zu haben (was oftmals als die einfachste Variante angesehen wird), keinen Reiz darstellt, ist für viele nicht leicht zu akzeptieren. Ebenso die Tatsache, dass sich meine romantischen Gefühle nicht unbedingt auf eine Person beschränken. Im Gegenzug muss ich vielleicht damit klarkommen, dass meine Partnerin ab und an mit Leuten auf Partys knutschen oder One-Night-Stands haben möchte. Früher fand ich die Vorstellung von Intimität mit Fremden bedrohlich; heute kann ich sie zumindest nachvollziehen. Und finde sie – kanalisiert durch einen geliebten Menschen – manchmal sogar, naja, heiß.

Petra Bergwein ist nicht der richtige Name unserer Autorin. Sie möchte unerkannt bleiben, um ihr Privatleben zu schützen.
 

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