10 nach 8: Annekathrin Kohout über Katy Perry

 
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19.06.2017
 
 
 
 
10 nach 8


Erkennt mich endlich!
 
Die Sängerin Katy Perry hat sich 72 Stunden lang livestreamen lassen. War das eine Performance oder PR für den Imagewechsel?
VON ANNEKATHRIN KOHOUT

Die Gratwanderung, eine öffentliche Person zu sein: Katy Perry auf ihrer "Witness"-Tour in Los Angeles. Das Konzert am 12. Juni wurde auf YouTube live übertragen. © Timothy Norris/Getty Images
 
Die Gratwanderung, eine öffentliche Person zu sein: Katy Perry auf ihrer "Witness"-Tour in Los Angeles. Das Konzert am 12. Juni wurde auf YouTube live übertragen. © Timothy Norris/Getty Images
 
 

Bestseller lese ich am liebsten mit einem Kindle. Denn bei Büchern, die von vielen gelesen wurden, ist die Wahrscheinlichkeit besonders hoch, dass darin auch viel markiert wurde. Das kann man sich wiederum in der Kindle-Funktion "Beliebte Markierungen" anzeigen lassen, einer Funktion, die ich häufig in Anspruch nehme. Besonders ergiebig war die Ausbeute an Markierungen bei dem Roman The Circle von Dave Eggers. "Wir bewegen uns Richtung Ehrlichkeit, und wir bewegen uns weg von Scham", ist so ein Satz, der oft angestrichen wurde.

Was an Eggers' dystopischem Roman – der unter anderem sehr konsequent die Welt einer Überwachungsgesellschaft durchspielt – so interessant war, ist, dass er mögliche Motive und Erklärungsmuster für die Entscheidung, sich nonstop filmen zu lassen, vorführt. Zum Beispiel den Slogan "Teilen ist Heilen": Wer eigene Erfahrung öffentlich macht, lässt auch jene daran teilhaben, die solche Erfahrungen nicht machen können (etwa weil sie körperlich behindert sind). Ein anderes Motiv ist die Gewährleistung von Glaubwürdigkeit und Transparenz, die man sich unter anderem von Politikern immer so sehnlichst wünscht. Im Roman wird nicht nur gedanklich durchgespielt, dass dies nun technisch möglich ist, sondern auch, wie es praktisch vollzogen wird. Wenn nur ein Politiker seinen Wahlkampf "gläsern" bestreiten würde, so die Idee, gelangten auch die anderen in Zugzwang.

Als ich erfuhr, dass Katy Perry sich 72 Stunden von 41 Kameras live filmen lassen wollte – und zwar mit dem Zweck, ihr neues Album zu bewerben –, fand ich das zunächst spannend und musste sofort an The Circle denken. Wie Eggers vollführte auch ich sogleich das Gedankenspiel, was es wohl für Folgen hätte, würden nun immer mehr Prominente das 24-Stunden-Livestreaming als Werbemaßnahme für sich entdecken. Würden sie damit nicht auch vielen Fans und Konkurrenten einen Grund liefern, freiwillig Überwachungstechnologien für sich in Anspruch zu nehmen? 

Öffentliche Therapiestunde

Obwohl sich Perry mit ihrem neuen Album politisch gibt, scheint eine kritische Perspektive auf Überwachung mit diesem Livestream nicht intendiert gewesen zu sein. Auch seinen Anspruch als Kunstprojekt löste Be my Witness weder formal noch inhaltlich ein, sondern blieb in vielerlei Hinsicht der Logik des Fernsehens verhaftet. Perry wurde nicht bei sich zu Hause gefilmt, sondern in einem als Apartment inszenierten Studio in Los Angeles. In den Alltag des Stars erhielt der Zuschauer aber auch deshalb keinen Einblick, weil jeder Tag von einem festen Programm bestimmt war: Andere berühmte Frauen – zum Beispiel Sia oder Dita von Teese – kamen zu einem gemeinsamen Gespräch über Feminismus zum Essen vorbei, Gordon Ramsay hielt einen Kochkurs ab, mit Jeremy Scott, dem Creative Director von Moschino, sprach Perry über gemeinsame Erinnerungen, und bei dem Fernsehpsychologen Siri Sat Nam Singh nahm sie eine Therapiestunde.

Als The Circle erschien, wurde das Buch als das neue 1984 bezeichnet. George Orwells Roman war ja bekannterweise Titelgeber einer populären Fernsehshow der 2000er Jahre: Big Brother. Tatsächlich erinnert Perrys Selbstversuch an diese frühere Fernsehshow, bei der es vor allem darum ging, zu beobachten, wie sich Menschen unter ständiger Überwachung verhalten.

In ihrer Sitzung mit dem Psychologen beklagt Perry zwar, dass sie als Star unter einem Mikroskop lebe. Doch natürlich verfolgt Be my Witness ein ganz anderes Ziel: Die Welt soll endlich Zeuge von Perrys echter Persönlichkeit werden. Endlich ihr wahres Ich, die reale Person hinter der Kreation Katy Perry erkennen. Das beteuert sie in zahlreichen Interviews und auch in der Show selbst.

Nichts hält sich so hartnäckig wie das Bedürfnis nach Echtheit und Ehrlichkeit. Und je klarer uns wird, dass selbst dem scheinbar Authentischsten eine gewisse Inszenierung zugrunde liegt, desto radikalere Methoden werden angewendet, um doch irgendwie zu beweisen, dass sich etwas Verborgenes hinter den Kulissen befindet, etwas, das unverstellt, unvermittelt, real ist. "Wir bewegen uns Richtung Ehrlichkeit, und wir bewegen uns weg von Scham" – das heißt eben auch: je schamloser, desto ehrlicher.

Perry nutzt hierfür eine Live-Therapiestunde, in der sie erklärt, dass Katy Perry nur eine Rolle sei, die ihrer eigentlichen Person, Katheryn Hudson (so ihr bürgerlicher Name), widerspricht. "Und wie ist Katy Perry im Unterschied zu Katheryn Hudson?", fragt der Psychologe, während er seine Augen leicht zusammenkneift, ohne in eine der vier großen Kameras zu sehen, die sich um die beiden gruppieren. Perry, deren Make-up bereits von Tränen verwischt wurde, spricht teils bestimmt, teils stockend: "Katy Perry ist so glamourös, sie ist reich, sie ist stark." Und Katheryn Hudson? Da wechselt sie gekonnt in die Ich-Form und sagt: "Ich bin viel nerdiger, als alle denken. Ich mag Humor, und ich mag es, über mich selbst zu lachen."

Geschickter Marketingcoup

Perry ist eine perfekte Dramaturgin ihres aktuellen Imagewandels. War die Sängerin Anfang dieses Jahres noch die brave Schwarzhaarige, der stets unterstellt wurde, keine richtige Persönlichkeit zu besitzen, trägt sie plötzlich kurzes, blondes, manchmal mit Strähnchen in Millennial Pink durchsetztes Haar. Dem Psychologen erklärt sie: "Ich habe mein Haar abgeschnitten, weil ich nicht länger wie Katy Perry aussehen wollte. Ich wollte endlich hundertprozentig ich selbst sein." Das erinnert ein wenig an Miley Cyrus im Jahr 2013, die ebenfalls für einen Imagewechsel – und der Verabschiedung ihrer Fernsehrolle Hannah Montana – ihr Haar kurz geschoren hatte. Falls Perry vorhatte, an die Frechheit und die provokativen Energien von Cyrus anknüpfen, ist ihr das jedenfalls nicht gelungen.

Nachdem der Livestream nach 72 Stunden in einem Konzert sein Ende gefunden hatte, konnten Zuschauer und Fans das Studio-Apartment, in dem Perry für den Dreh vier Tage gewohnt hatte, besuchen und dort Merchandise-Artikel erwerben. Die Fotos, die dabei entstanden, kursieren nun wiederum im Netz. Ein geschickter Marketingcoup. 

Zwischen all dieser PR-Professionalität gibt es einen sehr merkwürdigen Moment in diesem Livestream. Er findet während einer Diskussionsrunde mit Veteranen statt. Drei Herren sprechen bedacht und sorgfältig darüber, wie man stärker werden könne durch den Kampf. Wie man daran wachsen könne. Da bekommt Perry ganz gläserne Augen, beginnt ihren Kopf von links nach rechts zu schwingen, hin und her, und unterbricht die Veteranen mit lauter und energischer Stimme: "Stärker durch den Kampf? Das ist mein Leben!" Dieser Moment ist so signifikant, weil sich Perry darin verrät. Sie zeigt, dass alle anderen Menschen, denen sie in den 72 Stunden begegnet, nur Staffage sind. Spätestens hier erkennt man, wie verzweifelt sie um ihre Karriere und den Erfolg buhlt.

Annekathrin Kohout ist freie Kunstwissenschaftlerin, Autorin und Fotografin. Auf ihrem Blog "sofrischsogut.com" schreibt sie über Kunst, Popkultur und Internetphänomene. Sie ist Gastautorin von "10 nach 8".
 

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