Fünf vor 8:00: Reden hilft - Die Morgenkolumne heute von Theo Sommer

 
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FÜNF VOR 8:00
27.06.2017
 
 
 
   
 
Reden hilft
 
Helmut Schmidt gehörte zu den Urvätern der G-Gipfel. Das bevorstehende G20-Treffen in Hamburg hätte er in seinen Ausmaßen sicher verrückt gefunden. Aber auch notwendig
VON THEO SOMMER
 
   
 
 
   
 
   
Noch ringen die Sherpas um fällige weltwirtschaftliche und weltpolitische Problemlösungen beim G20-Gipfel in Hamburg. Die Hanseaten streiten derweil über die Frage, ob das Treffen ein lästiges "Danaergeschenk" der Bundeskanzlerin ist oder eine willkommene Chance, die Elbmetropole nicht nur mit der Elbphilharmonie auf die Weltkarte zu setzen. Kaum einer verschwendet einen Gedanken daran, dass es ein Sohn der Hansestadt war, der zusammen mit seinem französischen Freund Giscard d'Estaing die G-Gipfel vor fünfzig Jahren ersann: Helmut Schmidt.
 
Im Juli 1972 hatte er das Bundesfinanzministerium übernommen; etwa gleichzeitig wurde Valéry Giscard d'Estaing französischer Finanzminister. Beide rückten dann im Mai 1974 in die höchsten Regierungsämter ihrer Länder auf. Sie arbeiteten von vornherein gut und vertrauensvoll zusammen. Ihre spektakulärsten Initiativen führten zu den Wirtschaftsgipfeln der wichtigsten industriellen Demokratien, zum Europäischen Währungssystem, und zum Menschenrechtskorb III der Helsinki-Akte.
 
Im Vordergrund stand zunächst die Weltwirtschaftskrise. Nixons Abkoppelung des Dollars vom Goldpreis im Jahre 1971 hatte dramatische Währungsturbulenzen ausgelöst. "Der Dollar ist unsere Währung, aber euer Problem", war Washingtons schnöde Haltung. Dem US-Finanzminister George Shultz war zugleich klar, dass das Schlimmste verhindert werden musste. Im März 1973 lud er Schmidt, Giscard d'Estaing, den japanischen Finanzchef Takeo Fukuda und den britischen Treasury-Minister Anthony Barber zu Gesprächen über den desolaten Zustand der Weltwirtschaft ein. Das Gespräch fand in der Bibliothek des Weißen Hauses statt, weswegen die Fünfer-Gruppe als Library Group in die Geschichtsbücher eingegangen ist. Es endete mit dem Beschluss, die Wechselkurse freizugeben. Damit gaben die USA ihre währungspolitische Führung preis.
 
Im September 1973 trafen sich die Vertreter der fünf erneut, diesmal in Nairobi, um den weltweiten Übergang zu einem freien Wechselkurssystem zu glätten. Vier Wochen später brach die Erdölkrise aus. Die arabischen Erdölförderer verübelten dem Westen die Unterstützung Israels im Jom-Kippur-Krieg und drosselten, ein folgenschwerer Racheakt, die Produktion um fünf Prozent, was innerhalb eines halben Jahres eine Vervierfachung des Barrelpreises von 3 auf 12 Dollar bewirkte. Die Auswirkung auf die Weltwirtschaft war verheerend. Schmidt drängte auf eine Energiekonferenz, um die westliche Politik zu koordinieren. Sie fand im Februar 1974 in Washington statt, blieb aber ohne unmittelbare Wirkung. Dies beunruhigte ihn zutiefst.
 
Wie Giscard d'Estaing, so bedrückte auch ihn die Erinnerung an die Weltwirtschaftskrise in den frühen 1930er Jahren. Blinder Nationalismus hatte damals den internationalen Wirtschaftsaustausch stranguliert. Das sollte sich nicht wiederholen. Im Gespräch mit Giscard d'Estaing entstand dann die Idee eines Weltwirtschaftstreffens der Regierungschefs der großen industriellen Demokratien. Die beiden dachten an eine Fortsetzung der alten Library Group auf höherer Ebene.
 
Bei der Verabschiedung der Schlussakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit (KSZE) machten sie 1975 daraus Nägel mit Köpfen. An einem schönen Sommernachmittag beschlossen US-Präsident Gerald Ford, der britische Premierminister Harold Wilson, Frankreichs Präsident Giscard d'Estaing und Bundeskanzler Schmidt, in Helsinki an einem Gartentisch sitzend, die erste Gipfelkonferenz. "Damit sie nicht in die Hände der Bürokraten fielen", berichtet Helmut Schmidt, "kamen wir überein, sie durch persönliche Beauftragte vorbereiten zu lassen." Auch wurden die vier rasch einig, dass Japan teilnehmen solle. Italien kam wenig später hinzu. Damit waren die G6 geboren und die Institution der Sherpas aus der Taufe gehoben.
 
Der Bundeskanzler überließ seinem französischen Freund, "dem Bedürfnis nach Rang und Würde Frankreichs entsprechend", die Teilnehmer des ersten Wirtschaftsgipfels einzuladen. So versammelten sie sich Mitte November 1975 mit ihren Außen- und Finanzministern auf Schloss Rambouillet in der Nähe von Paris. "Das Schloss war angenehmerweise nicht allzu geräumig", erinnerte sich Schmidt, "die Konferenz fand in einem kleinen Saal statt, die Zimmer der Chefs lagen eng beieinander, aber Presse und Fernsehen waren außerhalb des Parks, das heißt weit weg." Die Journalisten wurden erst nach Ende der Konferenz in der Mairie des Städtchens Rambouillet unterrichtet. Schmidt hielt diese Maßregel für "klug ersonnen", da sie es den Chefs unmöglich machte, ihre Worte ständig auf die eigenen Medien zu münzen.
 
"Aus der Rückschau", schrieb Schmidt 1990, "erscheint mir als das wichtigste Ergebnis von Rambouillet nicht etwa die Liste der getroffenen Verabredungen, sondern vielmehr die Tatsache, dass die Konferenz einen weltweiten Rückfall in beggar-thy-neighbour policy verhindert hat" – eine Politik also, die darauf aus ist, die Nachbarn zu Bettlern zu machen. Sie hat den beteiligten 18 Politikern den Blick für die ökonomische Interdependenz geschärft und die Erkenntnis allgemein werden lassen, dass es angesichts der "stets zunehmenden internationalen Verflechtung unserer Volkswirtschaften keinem von uns – auch nicht der amerikanischen Regierung – gelingen konnte, allein mit nationalen Maßnahmen der tiefen Rezession zu entgehen. Dieses gemeinsame Verständnis hat verhindert, dass die beteiligten Regierungen sich blind den Verblendungen des Protektionismus hingaben."
 
 
Eine Erkenntnis, die im Zeitalter des Donald Trump bedrängend aktuell erscheint.
 
Die G6 wurden durch die Hinzuziehung Kanadas schon bald zu G7 erweitert. Seitdem sind die Weltwirtschaftsgipfel zu einer regelmäßigen Übung geworden. Helmut Schmidt nahm noch achtmal daran teil. Allerdings bedauerte er, dass der anfänglich sehr intime Charakter rasch zugunsten der nationalen Bürokratien und der Medien verloren gegangen sei. Den besonderen Wert der Treffen sah er darin, dass die Staats- und Regierungschefs "notgedrungen selber sprechen und einander zuhören und antworten müssen". Ein andermal schrieb er dazu: "Sie ermöglichen einen relativ zwanglosen Meinungsaustausch über akute Probleme, und sie wecken Verständnis füreinander, vor allem bei neu ins Amt kommenden Staats- und Regierungschefs. Dabei ermöglichen sie eine realistische Einschätzung des künftigen Verhaltens der anderen Führungspersonen." Auch hier denkt man heute unwillkürlich an den Immobilien-Mogul im Weißen Haus.
 
Nach dem Ende des Kalten Krieges plädierte Helmut Schmidt früh für die volle Einbeziehung Russlands und Chinas. Tatsächlich wurde Russland 1998 das achte Mitglied; doch ist es nach der Annexion der Krim im März 2014 fürs erste wieder ausgeschlossen worden. China ist noch nicht dabei, spielt aber innerhalb der 1999 in Berlin gegründeten G20 eine immer bedeutsamere Rolle.
 
Die Notwendigkeit und Nützlichkeit solcher Treffen würde der 2015 verstorbene Helmut Schmidt auch heute nachdrücklich unterstreichen. Indessen hat er in seinen letzten Lebensjahren die Ausuferung der Gipfelveranstaltung sehr kritisch gesehen. Den "enormen bürokratischen Tross und die allzu große Nähe und Einmischung der Medien" fand er nicht zweckdienlich. Könnte er noch miterleben, was in Hamburg bevorsteht: 21.000 Gipfeldelegierte, 4.000 Journalisten, 20.000 Polizisten und Zehntausende von Demonstranten – er würde gewiss die Hände über dem Kopf zusammenschlagen und in seiner unverblümt direkten Art fragen: "Seid ihr eigentlich alle verrückt?"
 
"Ihr spinnt ja wohl", würde Helmut Schmidt in nostalgischer Erinnerung an die Kaminfeuer-Heimeligkeit des Sechsertreffens von Rambouillet wohl sagen. Und sicherlich den Gedanken wiederholen, den er zuletzt im Gespräch gelegentlich hatte anklingen lassen, vielleicht nicht völlig im Ernst: Warum nicht die ganze Veranstaltung auf einen Hochseedampfer oder ein Kreuzfahrtschiff verlegen?
 
So bedauerlich man dies auch finden mag – die Zeiten haben sich geändert: die Zahl der Staats- und Regierungschefs der beteiligten Staaten, die Größe ihres Trosses, das demokratische Erfordernis der Transparenz. Und die Dringlichkeit solcher Gespräche auf höchster Ebene ist in der turbulenten Welt von 2017 angesichts der sonstigen Sprachlosigkeit eher noch größer als 1975.
 
Auch der Hamburger Ex-Bundeskanzler hätte sich dieser Einsicht notgedrungen am Ende wohl gefügt.
   
 
   
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Fünf vor 8:00 ist die Morgenkolumne von ZEIT ONLINE. An jedem Werktag kommentieren abwechselnd unter anderem Michael Thumann, Theo Sommer, Alice Bota, Matthias Naß, Martin Klingst und Jochen Bittner.