Als der US-Außenminister George C. Marshall vor 70 Jahren den milliardenschweren Plan für ein
European Recovery Program entwarf, hatte er nicht allein den wirtschaftlichen Wiederaufbau des kriegszerstörten Europas im Sinn. Sein später als Marshall-Plan berühmt gewordenes Programm sollte dafür und für die transatlantische Partnerschaft zugleich ein ideelles Fundament legen, geleitet von vier Grundsätzen: der Würde des Menschen und den Freiheitsrechten des Einzelnen, vom Rechtsstaat und vom Freihandel.
Diese vier Prinzipien standen auch Pate, als sich Europas Staaten zusammentaten und eine Gemeinschaft gründeten. Diese Grundsätze waren und sind unabdingbare Voraussetzung für jeden, der im Club dabei sein will. Die Europäische Union definiert sich als einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts.
Die Wahl Donald Trumps zum 45. amerikanischen Präsidenten wirft einen Schatten auf das Jubiläum des Marshall-Plans. Das war vergangenen Mittwoch beim Festakt in Berlin deutlich zu spüren. Bei den Reden und den Unterhaltungen am Rande schwang stets ein Zweifel mit: Fühlt sich Amerika, die einstige Schutzmacht dieser vier Grundsätze, eben diesen Prinzipien unter Donald Trump noch selber verpflichtet? Und immer wieder hieß es, ob die Lordsiegelbewahrer dieses amerikanischen Vermächtnisses heute nicht eher in Brüssel, in Berlin und Paris sitzen.
Mancher erinnerte an den konditionierten Glückwunsch der Bundeskanzlerin zu Trumps Wahl im vergangenen November, als Angela Merkel das Wesen der deutsch-amerikanischen Freundschaft hervorstrich, die Kooperation auf der Grundlage gemeinsamer Werte wie der Würde des Menschen und der Menschenrechte. Das hatte es bislang noch nie gegeben: Auf einmal musste gegenüber dem engen Verbündeten besonders hervorgehoben werden, was bislang als selbstverständlich galt und keiner Erwähnung bedurfte.
Doch was der Festakt in Berlin ebenso zum Ausdruck brachte: Die dort anwesenden Amerikaner, allesamt Trump-Kritiker, riefen nicht nach Beistand aus Europa. Sie waren fest davon überzeugt, sie könnten ihr Land ohne fremde Unterstützung aus eigener Kraft wieder ins Lot rücken. Ihre Selbstheilungskräfte seien stark genug.
Nein, der Hilferuf nach der europäischen Rettungsleine kam mitten aus der Europäischen Union und betraf die EU selber. Michael Ignatieff, der Direktor der angesehenen Budapester Central European University (CEU), bat die beiden EU-Kraftzentren Brüssel und Berlin geradezu flehentlich darum, die gemeinsamen Grundwerte innerhalb der Union hochzuhalten und gegenüber der ungarischen Regierung durchzusetzen. Der Anlass: Die von Ignatieff geleitete Universität – ein Hort der Freiheit und des intellektuellen Diskurses in diesem geistig, kulturell und politisch immer enger werdenden Land – ist aus politischen Gründen von der Schließung bedroht.
Ungarns Flehen hat einen tieferen Grund Die selbstbewusste Reaktion aus den Vereinigten Staaten und das Flehen aus Ungarn haben einen tieferen Kern. In beiden Ländern wehren sich zwar viele Menschen gegen die autokratische Politik ihrer demokratisch legitimierten Regierungen. Doch es gibt einen Unterschied: Die Stärke der amerikanischen Demokratie erweist sich vor allem in ihrer seit fast 250 Jahren bestehenden Verfassung und den sie stützenden wehrhaften Institutionen. Die Schwäche der ungarischen Demokratie hat ihren Grund in der Schwäche ihrer Institutionen.
In Amerika leistet die erste Gewalt, der Kongress, Widerstand und setzt Untersuchungsausschüsse gegen Trump ein; das Justizministerium als Teil der zweiten Gewalt, der Exekutive, ernennt einen Sonderermittler, der den strafrechtlichen Vorwürfen gegen den Präsidenten nachgehen soll; die Justiz, die dritte Gewalt, wirft Trump immer wieder Knüppel zwischen die Beine; und die sogenannte vierte Gewalt, die Medien, nimmt geradezu vorbildhaft ihre Kontrollfunktion wahr. Es ist, als wetteiferten Amerikas Institutionen darum, wer von ihnen das Wächteramt am besten ausfülle.
Angriff auf eine Privatuniversität Auch in Ungarn und ebenso in Polen regieren Parteien und Politiker, die meinen, ihre Macht brauche keine Zügel und sie dürften durchregieren. Wie Trump empfinden sie die Gewaltenteilung als lästig. Doch in diesen beiden europäischen Staaten versagen die inneren Abwehrkräfte der Demokratie. Die Institutionen, die Gerichte, die parlamentarische Opposition, die an Recht und Gesetz gebundenen Behörden, die Medien – sie alle sind oft zu schwach, um nachhaltig Widerstand zu leisten. Die noch jungen Verfassungen haben sie nicht mit besonders starken Verteidigungswaffen ausgestattet, es mangelt diesen Ländern anders als den USA an Verfassungstradition. In Polen und Ungarn hebeln die Regierungen und die sie stützenden Parteien die Institutionen aus und machen sie gefügig.
Die Beispiele:
In Polen hat die mit absoluter Mehrheit regierende PiS-Partei jüngst beschlossen, die Justiz nun endgültig unter ihre Aufsicht zu stellen. Das Verfassungsgericht brachte sie bereits unter ihre Kontrolle, nun will sie auch die Besetzung der anderen Richterstellen bestimmen.
Auch Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán und seine Fidesz-Partei
sind der Justiz und kritischen Medien zu Leibe gerückt. Sie zementieren ihre Macht und ihre Vorstellung vom ungarischen Gemeinwesen mit einer Reihe von Gesetzen, die mit einfacher Mehrheit beschlossen, aber nur mit einer Zweidrittelmehrheit wieder abgeschafft werden können.
EU hat gegen Orbán nicht viele Mittel Derzeit zielen Orbáns Angriffe auf die Central European University. Die Privatuniversität wurde 1991 von dem aus Ungarn stammenden US-Milliardär George Soros gegründet und hat ihren Sitz im Bundesstaat New York. Die CEU hat einen ausgezeichneten Ruf und ist die einzige ungarische Universität, die im internationalen Vergleich mithalten kann. Doch für Orbán ist die CEU, wie es seine Haushistorikerin Mária Schmidt ausdrückte, ein "vorgeschobener Wachposten" des verhassten Soros und verpönt wegen ihrer "liberal-extremistischen Haltung".
Darum haben sich der Ministerpräsident und seine Getreuen ein perfides Gesetz ausgedacht, dass ausländische Universitäten in Ungarn nur noch dann zulassen darf, wenn mit dem Herkunftsland der Uni ein Staatsvertrag geschlossen wurde und die ausländische Hochschule auch in ihrem Herkunftsland einen Lehrbetrieb unterhält. Das Gesetz wurde gezielt auf die CEU gemünzt, denn es trifft nur sie: Die Soros-Uni hat in Amerika keine eigene Hochschule. Bleibt es bei dem Gesetz, muss sie in Budapest im Herbst 2018 schließen.
Die EU-Kommission schäumt und reagiert mit Rechtsstaatsaufsicht und Vertragsverletzungsverfahren. Doch das Schwert ist ziemlich stumpf. Als härteste Sanktion kann höchstens ein Entzug des Stimmrechts für Polen und Ungarn herauskommen, doch selbst das ist angesichts der engen Voraussetzungen eher unwahrscheinlich.
"Stoppt-Brüssel"-Kampagnen in Ungarn Die Brüsseler Drohungen jedenfalls schrecken bislang weder in Warschau noch in Budapest. Viktor Orbán zeigt bislang keine Bereitschaft einzulenken und widmet sich lieber mit aller Kraft seiner "Stoppt-Brüssel"-Kampagne. Derweil streicht sein Land jedes Jahr aufs Neue etwa viereinhalb Milliarden Euro aus EU-Kassen ein.
In Polen ist es kaum anders. Premierministerin Beata Szydło hat ihre tiefe Verachtung für die EU erst Ende Mai in einer Rede im polnischen Parlament zum Ausdruck gebracht: "Wir machen den Wahnsinn der Brüsseler Eliten nicht mit."
Auf dem EU-Gipfel am vergangenen Donnerstag sagte Ratspräsident Donald Tusk, nie zuvor habe er so "ein starkes Gefühl gehabt, dass sich die Dinge in die richtige Richtung entwickeln". Und in der Tat gibt es für die Europäische Union wieder Grund zu Optimismus. Doch Ungarn und sein eigenes Land Polen scheint Tusk dabei aus dem Blick verloren zu haben.
Es ist höchste Zeit, dass die EU zum Hörer greift und den Regierungen in Budapest und Warschau deutlich sagt: Wenn ihr unsere gemeinsamen Grundsätze weiter mit Füßen tretet, müssen wir euch leider den Geldhahn zudrehen! Die Europäische Union ist eine Wertegemeinschaft, ein Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, und kein Selbstbedienungsladen.