| | Sibirische Landschaft (© Alex Kotomanov/Unsplash) | Meine kleine, schöne Erfahrung mit Russland ist, dass ich jedes Mal erstaunlich glücklich dort bin. Selbstverständlich bin ich jede Sekunde völlig unglücklich in Russland, auf die elementarste Weise verloren, genervt, wenn etwas nicht klappt, entsetzt über den Zustand der russischen Seele – von den Millionen Toten, die überall im Lande herumgeistern und noch immer keine Bleibe gefunden haben, ganz zu schweigen. Und doch (oder vielleicht auch deshalb): Am Ende kommt immer eine einfältige Art Glück oder Rührung dabei heraus, wobei ich mich frage, ob es sich hierbei um eine private Blödigkeit handelt oder etwas, das mit mir nur am Rande zu tun hat, weil es von weiter her kommt, aus der Tiefe des geschichtlichen Raums, sagen wir mal, der Tatsache, dass es die göttliche Musik von Schostakowitsch und Strawinsky gibt, die nicht weniger göttlichen Bücher von Tschechow und Dostojewski und Gogol, um nur diese zu nennen; sie alle haben die russischen Paradoxien und Verhängnisse ja trefflich beschrieben und gelebt. Denke ich an Russland, möchte ich immer schreien: Über das menschliche Unglück an sich, seine Maschinenhaftigkeit, die ewige Wiederkehr des Gleichen in neuen Klamotten, um in diesem Wissen bei jeder sich bietenden Gelegenheit in einen trotzigen Hoffnungsfuror zu verfallen, in einen Wahn des Glaubens an das Gute, dessen empirische Basis in einer Handvoll menschlicher Begegnungen besteht, also im Grunde in nichts. Ich verstehe Russland auch nach der vierten Reise überhaupt nicht. Ich versuche es auch gar nicht, um ehrlich zu sein, denn jeder Versuch würde meinen Glauben sofort zerstören, mein haltloses Zugeneigtsein, wenn es das trifft, mein musikalisches Gedächtnis. Meine Affenliebe zu den Russen – ich muss hier leider kurz persönlich werden – stammt aus den spätstalinistischen Jahren 1946 bis ’51, denn in diesen knapp fünf Jahren lebte meine Mutter, die eine Deutsche ist, in der Nähe von Moskau in der kleinen Stadt Klin. Sie und ihre jüngere Schwester und die drei großen Brüder und natürlich die Mutter und der Vater, der bei der Firma Schott in Jena bis Kriegsende für den ordnungsgemäßen Betrieb der Glaswannen zuständig war und nun, als Wiedergutmachung, das von Deutschen 1941 zerbombte Glaswerk im Klin wieder zum Laufen oder besser: Schmelzen bringen sollte, zusammen mit ein paar Kollegen. Deshalb war meine Mutter in Russland; zehn Jahre war sie bei der Ankunft im Herbst 1946 und knapp fünfzehn bei der Rückkehr im Januar 1951. Sie spricht bis heute ein fehlerfreies, moskowitisches Russisch, worauf sie sehr stolz ist, und war die einzige in ihrer Familie, die nie ein schlechtes Wort über die Russen verlor. Im Gegenteil. Im Winter 1946/47 wären die Deutschen aus Thüringen da drüben in diesem verfluchten Russland, an dem sich bekanntlich schon ganz andere die Zähne ausgebissen haben, beinahe verhungert, ja – aber eben auch die Russen. Das war bloßer Gerechtigkeitssinn, der meine Mutter so reden ließ, sie war zeitlebens überzeugte Sozialdemokratin und hasste vielleicht die Kommunisten, aber bestimmt nicht die Russen. Sie hatte eine Freundin namens Ljusja dort in Klin, das ich im Sommer 1998 mit ihr besucht habe, und vielleicht ging es bei meinen Russlandreisen ja von Anfang an darum, diese Ljusja wiederzufinden oder die russische Stimme meiner Mutter, die ich in mir trage, oder was immer ich da in mir trage, diese ihre Geschichte auf jeden Fall.
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