| | © Wojtek Radwanski/AFP/Getty Images | Vor einigen Monaten hat ein Vorgang in Polen unter der 2015 gewählten Regierung der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) meine Aufmerksamkeit geweckt. Es war nämlich durch die autokratisch regierende Partei die Richterin Julia Przyłębska zur neuen Präsidentin des Verfassungsgerichts ernannt worden. Dieser Vorgang erschien mir nicht nur deshalb beachtenswert, weil das Verfassungsgericht dadurch – nachdem schon zuvor mehrere Richter durch PiS-nahe Kandidaten ausgetauscht worden waren – endgültig seiner Unabhängigkeit beraubt wurde. Besonders bemerkenswert fand ich bei dieser jüngsten Entwicklung die ernannte Person selbst. Die unabhängige Zeitung gazeta wyborcza hatte nach der Nominierung von Julia Przyłębska Akten veröffentlicht, die aus der Zeit ihrer Anstellung in einem lokalen Gericht in Poznań in den 1990er Jahren stammten, wo Przyłębska im Bereich der Sozialversicherungsdelikte tätig gewesen war. Als sie nach einer längeren privat motivierten Pause 2001 in ihre Tätigkeit zurückkehren wollte, wurde sie abgelehnt. Die Richter, die in ihrer Sache im zuständigen Gremium entscheiden sollten, führten zur Begründung ihrer Entscheidung fachliche Fehler an (unter anderem vier Urteile, die sie ohne die Untersuchung der für die Verhandlungssache relevanten Beweise gefällt habe) sowie überdurchschnittlich häufiges Fehlen am Arbeitsplatz. Dieselbe Richterin also, die 2001 von einer Mehrheit von 101 zu 68 Richtern und Richterinnen von ihrer Tätigkeit in einem lokalen Gericht ausgeschlossen worden war, wurde nun die Vorsitzende des polnischen Verfassungsgerichts, und zwar, wie man annehmen kann, nicht zuletzt aufgrund ihrer ideologischen Nähe zur PiS-Partei. Robin Hood oder schlechte Richterin Das sagt natürlich etwas über die gerade regierende Partei Recht und Gerechtigkeit aus. Aber viel aussagekräftiger schien mir die nächste Entwicklung zu sein. Denn kurz darauf reagierte Frau Przyłębska auf die Enthüllung der Zeitung mit einem Statement, das sich auf die Vorwürfe aus dem Jahr 2001 bezog. In diesem ebenfalls in der gazeta wyborcza veröffentlichten Statement erklärte sie, dass die angeblichen Fehler ihrer Rechtsprechung aus dem Kontext gerissen und auf manipulative Weise gegen sie verwendet worden seien. Bei ihren Absenzen habe es sich um Urlaubstage oder unbezahlte Tage gehandelt, an denen sie wichtige Familienangelegenheiten zu erledigen gehabt habe. Sie sprach in ihrem Statement von einer offensichtlichen Verschwörung der gegen sie urteilenden Richter und Richterinnen. Zuvor habe man sie stark dafür angegriffen, dass sie eine Korruptionsaffäre im Zusammenhang mit einer Wohnungsgenossenschaft in Poznań aufgedeckt habe, in die wichtige Anwälte der Stadt und damalige städtische Regierungsmitglieder verwickelt gewesen seien. Außerdem seien die 90er Jahre schwere Zeiten gewesen, in denen Richter und Richterinnen überdurchschnittlich viele parallel laufende Verfahren zu bearbeiten gehabt hätten, manchmal über tausend, was zur Überlastung eines fast jeden Richters und einer fast jeden Richterin geführt habe. Przyłębskas Statement schließt mit dem Fazit, dass die gazeta wyborcza ihre Sache auf ungerechte Weise dargestellt habe und ihre außerordentliche Karriere dadurch nicht beschmutzen könne. Sowie auch die Tatsache, dass sie keinen Professorentitel besitze, sie keinesfalls für die Position der Vorsitzenden des Verfassungsgerichts disqualifiziere: Richterin, Konsulin, Diplomatin, zwei Fremdsprachen, die Leitung eines zigköpfigen Kreisgerichts, Vorsitzende einer woiwodschaftlichen Wahlkommission, internationale Erfolge, ehrliche Arbeit für Polen. War Przyłębska wirklich das Opfer einer Verschwörung von 101 Richtern geworden, denen sie durch die Aufdeckung eines Skandals im Zusammenhang mit Immobilien unbequem geworden war? Ist dies eine Robin Hood Geschichte? Oder ist Przyłębska einfach eine schlechte Richterin gewesen? Um zu verstehen, woher das Gefühl des Opferseins kommt, auch bei den PolitikerInnenn und den JournalistInnen, JuristInnen und Intellektuellen, die der PiS-Partei nahe stehen und den Mythos vom Kampf der Unterdrückten gegen das liberale Establishment erzählen, muss man wahrscheinlich zum einen berücksichtigen, dass in Polen und in den osteuropäischen Ländern tatsächlich ein anderer Kapitalismus verwirklicht worden ist als etwa in Deutschland. Es gibt Strukturen – juristische, aber auch im Denken der UnternehmerInnen, PolitikerInnen und vieler normaler BürgerInnen, auch der sogenannten kleinen Leute, die sich zurzeit als Opfern einer globalisierten Wirtschaft fühlen –, die noch aus der Zeit der kommunistischen Diktatur stammen, in der man gelernt hatte, dass über Beziehungen, Kumpanei und Tausch von Gefälligkeiten die eigene Position oder der eigene Erfolg oder der eigene Wohlstand effektiver gesichert werden könnten als auf dem Wege transparenter und demokratischer Umgangsformen. Andererseits ist es auffällig, dass im selben Land Menschen leben, denen es objektiv gesehen wirtschaftlich genauso geht wie jenen angeblich Benachteiligten, die sich nicht als Opfer der vergangenen 25 Jahre begreifen. Sie betrachten die demokratische Gesellschaft mit freien Medien und Gerichten, politisch unabhängigen Universitäten, Kulturinstitutionen und Schulen als bestmögliche Ausgangslage, aufgebaut auf der europäischen Tradition des aufgeklärten Denkens und den politischen Konsequenzen des Terrors des 20. Jahrhunderts. Mit solcherlei Fragen, bezogen auf die Vorgänge in ganz Europa, in dem das subjektive Gefühl des Opferseins derzeit viele Menschen befällt, beschäftige ich mich seit geraumer Zeit, wie viele Leute. Insbesondere interessiere ich mich in diesem Zusammenhang für Polen, aus dem ich stamme und in dem meine Eltern am eigenen Leib die Willkür eines totalitären Systems und seiner Begünstigten erlebt haben. Ich bin oft in Polen und habe Freunde dort, mit denen ich über die politischen Veränderungen in Polen und Europa spreche. Adam Michnik und Jarosław Kurski Im Mai dieses Jahres bekam ich ein Angebot, das ich nicht ausschlagen konnte, denn es versprach den direkten Kontakt zur polnischen Regierung. Der deutsche Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier ließ mich durch Mitarbeiter des Bundespräsidialamtes fragen, ob ich ihn als Mitglied einer Gruppe von drei Sondergästen aus dem Kulturbereich bei seiner Antrittsreise nach Warschau begleiten möge. In Aussicht stand unter anderem eine Begegnung mit Präsident Andrzej Duda im Präsidentenpalast. Meine Vorstellung, es würde auf dieser Reise zu einem Gedankenaustausch zwischen Politiker und Schriftsteller kommen, hatte sich natürlich schon nach den ersten Minuten im ablaufenden Zeremoniell eines historischen Staatsbesuchs relativiert; in der deutschen Präsidentenmaschine schüttelte Frank-Walter Steinmeier uns drei Sondergästen kurz die Hand, bevor er nach hinten zu den Journalisten und Journalistinnen entschwand. Vom Frédéric-Chopin-Flughafen fuhren wir in einer Kolonne zum Präsidentenpalast in der Krakowskie Przedmieście im Zentrum der Hauptstadt, wo Andrzej Duda den Bundespräsidenten und seine Delegation mit militärischen Ehren empfing. Dabei wurde auch ich als Teil der Delegation vom polnischen Präsidenten und seiner Frau Agata Kornhauser-Duda persönlich begrüßt. Während sich die zwei Präsidenten dann zu einem Gespräch zurückzogen, erhielten wir Sondergäste die Möglichkeit, den Chefredakteur und dessen Stellvertreter der gazeta wyborcza, Adam Michnik und Jarosław Kurski, zu treffen. Das war insofern überraschend, als diese legendäre, 1989 in den Tagen der ersten demokratischen Wahlen durch die Solidarność-Bewegung gegründete Zeitung heute zu den wichtigsten Medien der Opposition gehört. Ich weiß nicht, ob die polnische Regierung oder Andrzej Duda oder irgendjemand in seinem Stab mitbekommen hatte, dass dieser Termin stattfinden würde, und dazu ausgerechnet während des Gesprächs der zwei Präsidenten. War es sogar eine vom deutschen Bundespräsidialamt gezielt gesetzte Geste, dass ein Teil der Delegation sich mit zwei Männern trifft, die zu den größten erklärten Feinden der neuen polnischen Nation à la PiS gehören? Adam Michnik hatte als junger Mann in den 1960ern an den Protesten gegen die kommunistische Führung des Landes teilgenommen und sich gegen die antisemitischen Säuberungen der Institutionen durch die damalige Regierung unter Władysław Gomułka und Mieczysław Moczar engagiert. Dafür hatte ihn die Staatsmacht nicht nur mehrmals für Monate ins Gefängnis gesteckt, sondern ihm danach auch die Erlaubnis zum Studium entzogen, sodass er sich jahrelang als Schweißer durchschlagen musste. In den 1980er Jahren wurde er zu einem der wichtigsten Akteure der Solidarność-Bewegung, die mit dem Protest an der Lenin-Werft in Danzig im Sommer 1980 den Anfang vom Ende der totalitären Herrschaft der Kommunisten einleitete und damit auch das Ende des gesamten sogenannten Ostblocks. In den 80er Jahren saß Michnik, während ich in der sozialistischen Siedlung in Opole meine Kindheit verlebte, wieder mehrmals im Gefängnis oder wurde auf der Straße von Unbekannten zusammengeschlagen. Für mich war es, das muss ich sagen, eine Ehre, ihn kennenzulernen.
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