10 nach 8: Vera Dziadok über Belarus

 
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15.06.2017
 
 
 
 
10 nach 8


Selbst wer spricht, bleibt stumm
 
Noch immer ist das Leben in Belarus bestimmt durch Konventionen und eine ritualisierte sowjetische Sprache. Das verhindert, dass Probleme öffentlich diskutiert werden.
VON VERA DZIADOK

Das Schweigen in Belarus wird selten durchbrochen, so wie hier bei Protesten gegen eine Sondersteuer für Arbeitslose im März 2017. © Vasily Maximov/AFP/Getty Images
 
Das Schweigen in Belarus wird selten durchbrochen, so wie hier bei Protesten gegen eine Sondersteuer für Arbeitslose im März 2017. © Vasily Maximov/AFP/Getty Images
 
 

Sein Name ist Jaudacha – wenn ein N vorangestellt wäre, würde es "Versager" bedeuten. Wahrscheinlich hat ein besonders stolzes Mitglied der Familie das N irgendwann abgeschafft – wer möchte schon ein Loser sein? Nun sitzt aber der Versager ohne N im Gefängnis. Er ist Buchhändler in Minsk und betreibt einen Onlineshop, in dem auch Leute außerhalb der Hauptstadt die Bücher unabhängiger Verlage bekommen können. In den Knast kam er, weil der Staatspräsident in einem Interview von der Vorbereitung einer bewaffneten Provokation sprach. Also nahm man neben dem Buchhändler noch fast 20 andere Menschen fest, die für die Ängste und Albträume eines Einzelnen verantwortlich gemacht werden. Die Familien der Verhafteten haben über deren angebliche Verbrechen erst aus den staatlichen Medien erfahren. Zuerst die Beschuldigung, dann die Ermittlung. 

Die Festgenommenen werden als "Extremisten" bezeichnet. Es wird erwartet, dass sich alle an diese Sprachregelung halten und sie für die Realität nehmen. In den sozialen Netzwerken gab es bald eine andere Bezeichnung für sie: Patrioten. Mangel an Patriotismus würden ihnen wahrscheinlich ihre Verfolger vorwerfen. Die halten eher die Kosaken-Verbände für Patrioten, die im Netz für paramilitärische Jugend-Camps werben.  

Es gibt keinen Konsens in der Gesellschaft darüber, was ein Begriff wie Patriotismus bedeutet. Andere Worte sind kontaminiert. "Opposition" zum Beispiel ist im Allgemeinen ein Schimpfwort. Die meisten meinen damit "politisch marginal". Manche wissen nicht einmal mehr, dass noch vor zwanzig Jahren im Parlament von Belarus oppositionelle Parteien vertreten waren. Heute gibt es nur noch kleine außerparlamentarische Gruppen.

Die Floskel als Beweis

Wie früher in der Sowjetunion so ist auch in Belarus die Sprache ritualisiert. Sie ergibt nur im eigenen Kontext Sinn und hat keinerlei Bezug zur Realität. So geht es in fast allen Gedichten, die Kinder in der 2. Klasse lernen, um Heimatliebe, die ausschließlich mit ländlicher Umgebung verbunden wird, zu der unsere kleinen Städter aber leider keinen Bezug mehr haben. Nur wie soll man einen Satz wie: "Ich dresche das Korn" verstehen, wenn man noch nie einen Dreschflegel gesehen hat? So lernt auch die nächste Generation nur Dinge auswendig, die für sie abstrakt und unverständlich bleiben. Leere, sinnlose Laute, die die Kinder vor sich hinmurmeln. Genau so, wie Fremdsprachen gelernt werden. Niemand glaubt ernsthaft daran, dass er oder sie diese Sprache jemals anwenden wird. Auf Kommunikation ist die Lehre nicht ausgerichtet.

Auch viele Formeln über Nationen und "Brudervölker" sind leer. In der Sowjetunion hieß es immer, Belarussen seien ein "tolerantes, arbeitsames und gastfreundliches Volk". Aber was bedeutet das in Wirklichkeit? Sind wir tatsächlich gastfreundlich? Jeder, der einmal in Albanien oder Georgien war, wird es eindeutig mit Nein beantworten. Nur den Belarussen selbst fällt es nicht ein, die eigene Gastfreundschaft in Frage zu stellen. Die Floskel allein beweist es.

Aber nicht nur die Sprache ist ritualisiert, auch viele Tätigkeiten sind es. So soll zum Beispiel jedes Kind pro Jahr 30 Kilogramm Altpapier in der Schule abgeben. Die Norm ist gestiegen, im letzten Jahr waren es noch 20 Kilogramm. Niemand weiß, warum sich das geändert hat. Auf jeder größeren Straße in Minsk stehen heute Altpapiercontainer, es ist also kein Problem, das Papier auf eigene Faust zu sammeln. Die staatlich angeordnete Altpapiersammlung aber geht davon aus, dass die Menschen kein Bewusstsein für ökologisches Handeln haben. Deshalb ist es sicherer, die Lehrerin haftbar zu machen. Die meisten hinterfragen das nicht weiter – es war schon immer so – und sabotieren diese "nützliche öffentliche Pflicht", einige sammeln fleißig und nur die wenigsten stellen die Frage, wieso die Schule sich noch länger mit diesem Thema beschäftigen soll.

Gegenbeispiele sind selten

Als ich klein war, hatte ich eine existentielle Angst vor dem eigenen Stummsein, nachdem mir im Bus stumme Gleichaltrige begegnet waren, die mich so sehr erschreckten, dass ich noch Monate später von der Vorstellung gefesselt war, ich könnte meine Stimme verlieren. Mittlerweile verstehe ich, dass wir alle stumm sind, indem wir unsere Stimme nicht heben, keine Fragen stellen, indem wir, durch die ritualisierte sowjetische Sprache geimpft, sehr vieles als Konvention hinnehmen.  Aus all diesen Gründen wird in Belarus nichts öffentlich ausgehandelt und diskutiert.

Wie viele andere Belarussen wollte ich eine karta polaka, die sogenannte Polenkarte beantragen, mit der ich für Besuche in der EU kein Visum benötigen würde. Formal wäre das kein Problem, meine Großeltern waren bis 1939 polnische Staatsangehörige. Aber für die Beantragung hätte ich mich dem polnischen Volk zugehörig erklären müssen. Das konnte ich nicht. Ich frage mich, wie viele meiner Landsleute die Erklärung wohl unterzeichnet haben, ohne auch nur einen Moment zu wackeln. Weil sie seit Sowjetzeiten gewohnt sind, sich als etwas zu erklären, das sie nicht sind? Weil sie wissen, es ist sowieso nur ein Bekenntnis auf dem Papier?

Gegenbeispiele sind selten. Vor kurzem hat ein politischer Aktivist die frisch eingeweihte Skulptur eines Polizisten symbolisch erhängt. Die Skulptur thematisiert die Polizei im Zarenreich – dem Staat, der wegen der Unterdrückung jeglicher Volksaufstände in seinem Einflussgebiet als Gendarm Europas bezeichnet wurde. Dass ein Denkmal vor dem Innenministerium in Minsk diesen Beamten wieder heroisiert, widerspricht eigentlich dem Schulstoff, den Erzählungen russischer Klassiker, die genau diese Figur anprangern. Der Aktivist wurde natürlich bestraft.

Ich wünsche mir, dass ich eines Tages in einem Land erwache, in dem jedes Wort eine klare Bedeutung hat, ich nicht einen "Patrioten" von einem Patrioten, einen "Terroristen" von einem Terroristen, eine "Menschenrechtlerin" von einer Menschenrechtlerin unterscheiden muss – eine innersprachliche Übersetzungsarbeit also nicht mehr notwendig ist.

Vera Dziadok, 1978 in Minsk geboren, ist Dolmetscherin und Projektmanagerin. Seit 2007 arbeitet sie im Programmbereich des Goethe-Instituts Minsk. Als Journalistin hat sie mit unterschiedlichen belarussischen Medien zusammengearbeitet, v.a. der Zeitung "Nascha Niwa". Sie ist Gastautorin von "10 nach 8".
 

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