Die Königin unter den Straßen Draußen regierte grauer Rauputz, drinnen ging es bunt zu. Harf Zimmermanns Porträts der Berliner Hufelandstraße zeichnen das Bild einer Gesellschaft kurz vor der Wende. VON ANNETT GRÖSCHNER |
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| | Oskar und Irma Fleischer in ihren Verlobungsanzügen mit Hund Putzi, 1986 © Harf Zimmermann |
Das Bötzowviertel war immer das feinste Viertel des Prenzlauer Bergs und die Hufelandstraße die Königin unter den Straßen. Als meine 80-jährige Nachbarin, die Zeit ihres Lebens dort gewohnt hatte, zur Jahrtausendwende aufgrund der Sanierungen an den Kollwitzplatz verschoben werden sollte, bekam sie einen Schreianfall. Zu den Proletariern auf den Berg wollte sie auf keinen Fall ziehen, dabei hatte sie 50 Jahre im Hinterhaus ohne Bad gewohnt. Wir bekamen beide eine Umsetzwohnung in der benachbarten Esmarchstraße, benannt nach dem Erfinder der künstlichen Blutleere. Viele von uns wurden in den nächsten 15 Jahren durch Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen endgültig aus dem Viertel verdrängt. Meine Nachbarin verließ es, wie sie angekündigt hatte: im Sarg mit den Füßen voran.
Auch der Fotograf Harf Zimmermann, Jahrgang 1955, hat viele Jahre in der Hufelandstraße gewohnt. 1986/87 war er mehr als ein Jahr lang für seine Diplomarbeit an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig mit "Plattenkameras, die ebenso alt waren wie das Viertel, mit Stativ und schwarzem Tuch" von Haus zu Haus der Hufelandstraße gezogen, um die Mieter und Gewerbetreibenden zu fotografieren. Das war zwei Jahre vor dem Mauerfall und gleich an der Protokollstrecke, an der täglich die DDR-Regierungsangehörigen von der geschlossenen Community in Wandlitz in die Stadtmitte und zurück fuhren. Inspiriert war Harf Zimmermann von der Arbeit East 110th des US-amerikanischen Fotografen Bruce Davidson, der um 1970 zwei Jahre lang das Leben in und um einen Wohnblock in Harlem in New York aufgenommen hatte.
Harf Zimmermann aber fotografierte seine realen Nachbarn und das hieß im Osten, man kam sich näher, weil der Alltag von kleinen Katastrophen nur so wimmelte, die die Unterstützung der anderen verlangte. Er war also einer von ihnen.
Fast hundert Bilder sind damals entstanden, die jetzt, kuratiert von Felix Hoffmann, in der Ausstellung Hufelandstraße . 1055 Berlin bei C/O Berlin im Amerikahaus zu sehen sind. Die Aufnahmen führen von außen nach innen, von den Geschäften über das Straßen- und Hofleben bis in die Wohnungen, von Schwarz-Weiß zu Farbe.
Viele der Porträtierten haben sich schön gemacht für den Fotografen, der für seine altmodische Technik nicht selten verlacht wurde. Oscar und Irma Fischer stehen in ihren Verlobungsanzüge auf dem Hof und selbst Hund Putzi wurde noch mal gestriegelt. Das junge Brautpaar Dreßler dagegen hat das Paket "Traditionshochzeit 1987" gebucht, und verrät damit Nachgeborenen oder Zugezogenen das Brimborium, das 1987 um die 750-Jahr-Feier in beiden Stadthälften gemacht wurde. Die Kutsche allerdings ging vorher kaputt, das Brautpaar musste zu Fuß gehen. Man erkennt die ewigen Provisorien, in Mach-Mit-Aktionen verschlimmbesserte Höfe, mit Patina überzogene Gipsantiken in den Treppenhäusern und verwitterten Landschaftsmalereikitsch an Fassaden.
Es gab skurrile Persönlichkeiten, wie den Klavierspieler und Mercedes-Besitzer Franz Liszt, der seine alte Limousine nie fuhr, sondern nur in ihr saß, den schwulen Kellner Erich im Webpelz und mit roten Pumps, den Enkel von Frau Töpfer, der stolz in Uniform und mit Oma im Arm posiert, das junge Paar vor Paradiestapete oder drei Generationen vor der ins Wohnzimmer eingebauten Hausbar. Alles in allem eine Welt, die wesentlich individueller wirkt als alles, was sich heute in der Hufelandstraße bewegt. Das lag daran, dass, anders als heute, zu Ostzeiten der Mietpreis die Leute nicht sortierte, es gab Arme und Reiche, Akademiker und Leute mit Abschluss 8. Klasse, Künstler und Invalidenrentner, Alleinerziehende mit einem Kind und Familien mit 14 Kindern.
Hufelandstraße . 1055 Berlin ist vordergründig ein soziokulturelles Dokument der Stadt, aber eigentlich ist es vor allem eine künstlerische Arbeit. Das Künstlerische verschob sich zugunsten des Journalistischen, als Harf Zimmermann 2010 für die Zeitschrift Geo noch einmal in die Straße gegangen ist, um die Nachwendezeit festzuhalten und beide Zustände nebeneinanderzustellen. Die Reportage machte Furore, das Vorher/Nachher hat für Betrachter immer seinen Reiz. Für den Fotografierenden bedeutet die Methode aber eher Stillstand, denn sie bleibt notwendigerweise in der Ästhetik des Ursprungsjahres gefangen.
"Die Straße ist schöner als erwartet, aber auch fremder"
Frau Schulz mit drei ihrer 14 Kinder, Weihnachten 1986 © Harf Zimmermann
Von den alten Gewerbetreibenden waren 2010 nur noch zwei in der Straße. Wie durch ein Wunder, aber eigentlich bedingt durch das Desinteresse des Hausbesitzers an Rendite, war ausgerechnet der unscheinbarste Laden erhalten geblieben, Reinigungs- und Haushalttechnik in der Nr. 20 mit den ewig heruntergelassenen Rollläden und das Gemüsegeschäft Schramm, das inzwischen aufgeben musste. 1986 stellten sich die Nachbarn schon an, wenn der alte Schramm mit seinem Lkw W50 losfuhr, um Ware zu holen. Nach der Jahrtausendwende wurde die Tür des Gemüseladens wegen der vielen Zwillingswagen verbreitert. Was viel über die neue Art der Reproduktion im Viertel erzählt.
Die Hufelandstraße ist seit der Wende eine geleckte Straße geworden, in der im Prinzip nur die Pflastersteine die alten geblieben sind. Die Gebäude wurden von Grund auf saniert, neue Bäume gepflanzt, die Bevölkerung zu großen Teilen ausgetauscht. Die Eigentumswohnungsdichte ist eine der höchsten im Bezirk. Es gibt keine aufregende soziale Mischung mehr, die durch Reibung Lebendigkeit erzeugt. Nicht, dass es nicht lebenswert wäre, aber alles ist lauwarm und in neuen Grenzen gefangen und nach 22 Uhr im Tiefschlaf.
"Der Osten ist aus ihr gewichen"
Von einer bleiernen Müdigkeit, die die Häuser umhüllte, schrieb Harf Zimmermann allerdings auch über die Hufelandstraße Mitte der Achtziger. Die politischen Verhältnisse waren zerrüttet, es gibt Porträtierte, die ihre Wohnungen kurze Zeit später verließen, um im Westen ein neues Leben zu beginnen.
"Die Straße ist schöner als erwartet, aber auch fremder. Sie liegt im alten Osten – doch der ist aus ihr gewichen", hat Joachim Gauck, fast poetisch, im Begleitband der Ausstellung geschrieben. Die Vergangenheit zu beschönigen hieße, die damaligen Verhältnisse zu verleugnen. Zimmermanns Bilder sind nicht nostalgisch. Das liegt auch an der Präzision der Aufnahmen. Die Tiefenschärfe lässt kleinste Einzelheiten erkennen.
Wild und Gefügel, HO Fleischerei, 1986 © Harf Zimmermann
In den Bildern der Verkaufskollektive und Einzelbetreiber der Geschäfte offenbaren Haltung und Gesichter der Menschen die damaligen Machtverhältnisse. Das Kollektiv des Fischladens ist zerrüttet, der Schuhladenbesitzer ist stolz, privater Einzelhändler zu sein, man erkennt auf jedem Foto sofort Chef oder Chefin und den, der mitgezogen wird.
Man erkennt Aufstiege und Abstürze, Enttäuschung über das Leben und die Offenheit der vielen Kinder. Je länger man sich in die Einzelheiten der Schaufenster und Wohnungseinrichtungen vertieft, desto faszinierender und vielfältiger wird die Welt.
Zimmermann denunziert nicht, im Gegenteil, er nimmt seine Nachbarn ernst, egal, wer sie sind. Aber die Belichtungszeit seiner Kamera führt dazu, dass jedes falsche Lächeln aus dem Gesicht fällt und jede Pose nicht ohne Verkrampfung zu halten ist.
Was die Bilder von 1986 so faszinierend macht, ist der Widerspruch zwischen außen und innen. Draußen regierten grauer Rauputz und verrußte und vom Krieg versehrte Stuckfassaden die Straße, die Balkone waren aus Sicherheitsgründen abgeschlagen und die alten Linden wegen der Umstellung von Stadt- auf Erdgas gerade eingegangen und durch Blumenkübel ersetzt worden. Drinnen in den Wohnungen konnte es gar nicht bunt und individuell genug sein. Es ist nicht nur die Historie einer Straße, sondern eine Menschengeschichte. Der Schriftsteller Valeriu Marcu hat einmal gesagt, dass die Biografie zärtlich ist, weil jede Existenz ein Rührstück ist. Gleiches lässt sich in den Bildern Harf Zimmermanns lesen.
Die Ausstellung "Hufelandstraße . 1055 Berlin" läuft bis 2. Juli 2017 in der C/O Berlin. Der gleichnamige Begleitband ist bei Steidl erschienen.
Annett Gröschner lebt als Schriftstellerin und Publizistin in Berlin. Sie schreibt Romane, Erzählungen, Essays, Theaterstücke, Radiofeatures und Reportagen. Sie ist Mitglied der Redaktion von "10 nach 8". Sie wollen der Diskussion unter dem Text folgen? Hier geht es zum Kommentarbereich. |
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