Sie wird jetzt schon gefeiert, die neue Verfassung. Die türkischen Staatsmedien bejubeln das Paragrafenwerk aus 18 neuen Artikeln als historischen Einschnitt und vergleichen ihn mit der Gründung der Türkischen Republik 1923. Das freut die Anhänger von Präsident Erdoğan, alle anderen fassen es als glatte Drohung auf. Nämlich jene andere Hälfte des Landes, die keine "neue", keine andere Türkei will.
Doch vielleicht ist es dafür schon zu spät. Denn das Parlament diskutiert seit dieser Woche die neue Verfassung und will damit noch im Januar fertig werden. Dann soll das neue Grundgesetz im Parlament mit den Stimmen der Regierungspartei AKP und der Nationalisten der MHP verabschiedet werden. "Stoppen" könnte die MHP das Projekt, doch ihr Vorsitzender ist fest entschlossen, es durchzuwinken. Anschließend soll, so der Plan, das Volk seinen Segen dazu geben. Bisher haben die Anhänger Erdoğan jedem Verfassungsreferendum den Sieg beschert.
Anfang dieser Woche saß ich in einer Diskussion von deutschen Journalisten mit Redakteuren der türkischen Zeitung Sabah, eines regierungstreuen Blatts. Einer der Sabah-Kolumnisten bezeichnete die neue Verfassung als Volkes Wille. Tage zuvor hatte ich von einem regierungskritischen türkischen Politologen gehört, die Verfassung sei die Beurkundung der Diktatur. Wer hat Recht?
Beides könnte sich am Ende als richtig herausstellen. Dass die Verfassung mit mehr als fünfzig Prozent der Wählerstimmen angenommen wird, gilt als wahrscheinlich. Referenden sind in der Regel Abstimmungen über die Person Erdoğans, und der ist ein hervorragender Wahlkämpfer in eigener Sache. Dann wäre die Verfassung Volkes Wille. Und doch würde sie dem Volk oder genauer seinen Volksvertretern im Parlament viel von der Macht nehmen, die sie heute noch genießen. Dann könnte eintreten, was der Politologe befürchtet: die Diktatur.
Alle drei Gewalten in einer Person
Das neue Grundgesetz ist in vielen Punkten der Rahmen für die Realität, die sich Erdoğan in den vergangenen anderthalb Jahren mit Ausnahmezustand, Richterentlassungen und De-facto-Kommando in der regierenden AKP ohnehin schon zurechtgezimmert hat. Erdoğan wird die Exekutive sein, daneben per Dekret und direktem Durchgriff auf die AKP-Mehrheit im Parlament auch die Legislative, er wird auch die Richter bestimmen. Kurzum: alle drei Gewalten in einer Person. Das Amt des Premierministers wird folgerichtig abgeschafft. Das soll, sagen die AKP-Befürworter der Verfassung, die "Effizienz" des Regierens erhöhen in einer Zeit, in der die Türkei von innen und außen bedroht wird. Sie verweisen auf Frankreich, die USA und Russland, die auch Präsidialsysteme haben.
An dem Vergleich stimmt nichts. Ein System mit einem starken Präsidenten, wenn es nicht in die Diktatur abrutschen soll, braucht starke Gegengewichte. In den USA sind das der Kongresshügel, aber auch die fünfzig Bundesstaaten, kurz: der Föderalismus. Frankreich hat einen Premier, ein selbstbewusstes Parlament und in den letzten Jahren gestärkte Regionen. Selbst Russland hat einen, wenn auch von Putin geschwächten, Föderalismus und einen Premier, der sich um die Innenpolitik kümmert, die Putin eher lästig findet. All das wird die neue Türkei nicht haben.
Die Türkei ist nämlich sowieso schon ein hyperzentralisierter Staat, in dem der viel zu mächtige Premier oft Mikromanagement betrieb: Haselnusspreise bestimmen und Lehrer in der Provinz ernennen. Das Land litt schon unter der alten Verfassung, welche die Putschgeneräle von 1980 den demokratisch gewählten Politikern diktiert hatten, an der Übergriffigkeit der Zentralmacht – und viel zu schwachen Regionen. Da ist viel schief gegangen: siehe die inkompetenten entsandten Beamten aus Ankara, die sich in der Region nicht auskennen, siehe den Krieg in den kurdischen Gebieten des Ostens. Erdoğans Rezept gegen alle Gebrechen ist nun: "Ich mache alles allein."
Von der Demokratie, wie wir sie kennen, wird kaum was übrig bleiben – das geben sogar AKP-Anhänger hinter vorgehaltener Hand zu. Leider wird es auch nicht zu besserem Regieren führen. Erdoğans Macht ist wie Stahl, aber der Staat zeigt viele Risse. Ein hyperzentralisierter Staatsapparat braucht nämlich exzellente Beamte, die den Herrscherwillen klug durchsetzen, auch in der entferntesten Region. Genau daran mangelt es der Türkei. Die Entlassung von mehr als hunderttausend Staatsangestellten, die Säuberung von Richtern, Polizisten, Staatsanwälten hat den türkischen Staat ineffizient gemacht. Da viele sofort gefeuert oder gar verhaftet wurden, ist das institutionelle Gedächtnis oft zerstört.
Wie schlimm es schon ist, zeigt die Wehrlosigkeit der türkischen Sicherheitsbehörden gegen Terroranschläge trotz Ausnahmezustand. Der Staatsschutz ist derzeit noch am besten darin, "Terroristen" zu verhaften, deren Terror darin besteht, am Schreibtisch einen Artikel zu verfassen. Derzeit wird jeder in den Staatsdienst eingestellt, der als politisch zuverlässig gilt.
So wird Erdoğan seinen Traum von der Neugründung der Türkischen Republik nicht verwirklichen. Wenn der Staat – egal, wie autoritär - nicht funktioniert, wird diese Verfassung mit ihm kommen und mit ihm wieder gehen. |
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