Die Geschichte des Russen Ildar Dadin klingt ungeheuerlich, und sie ließe sich leicht als eine dieser traurigen Erzählungen eines Oppositionellen aus Russland abtun, die über die Jahre so zahlreich geworden sind, dass sie doch nicht mehr der Rede wert scheinen. Vor allem dann nicht, wenn man sich ein autokratisches System um der guten Wirtschaftsbeziehungen willen schönreden will. Doch diese Geschichte erzählt davon, dass Öffentlichkeit manchmal tatsächlich helfen kann. Ildar Dadin hat sie geholfen, wenn auch nur ein bisschen.
Im November hatte Dadin seinem Anwalt einen Brief an seine Frau diktiert, in dem von Schlägen und Folter in der Strafkolonie Nummer 7 im nördlichen Karelien berichtet wird. Häftlinge, auch er, würden zeitweise täglich von zehn bis zwölf Wächtern geschlagen, auch würden Vergewaltigungen angedroht. In dem Brief stand auch, dass Dadin befürchte, die Haft nicht zu überleben.
Das Schreiben fand den Weg in die Öffentlichkeit und erzeugte recht große Aufmerksamkeit in Russland. Die Menschenrechtsbeauftragte versprach, die Vorwürfe zu prüfen und den Gefangenen in eine bessere Anstalt zu verlegen. Auch wurden weitere Vorwürfe bekannt.
Dann ging alles den üblichen Weg: Bilder der Überwachungskameras wurden den Anwälten nicht übergeben, was Fragen aufwarf, wurde abgetan, personelle Konsequenzen gab es bislang keine. Und dann verschwand Dadin im Dezember. Zwar saß er in einem russischen Gefängnis, doch wussten weder seine Familie noch sein Anwalt, wo er abgeblieben war und ob er noch lebte.
Aufrecht, politisch, parteilos
Im Januar tauchte Dadin in der Strafkolonie Nummer 5 im Altai-Gebiet auf. Er klinge sehr viel besser als bei ihrem letzten Treffen Anfang November, sagt seine Frau. Ihr Mann werde nicht mehr geschlagen, das sei die gute Nachricht. Doch er sitze noch immer ein, das sei die schlechte Nachricht.
Über den 34-Jährigen sagen Bekannte, er sei ein aufrechter Mensch. Politisch, parteilos und auf seine Art kompromisslos. Als ich nach Moskau kam, war er schon verurteilt, erst zu drei Jahren Haft, dann wurde das Strafmaß auf zweieinhalb Jahre reduziert. Die bekam er, weil er innerhalb eines halben Jahres mehrfach mit einem Schild in der Hand protestierte, gegen Wladimir Putin, gegen den Krieg in der Ukraine, gegen die Inhaftierung der ukrainischen Pilotin Nadija Sawtschenko.
Gewaltige Missstände in russischen Gefängnissen
So wurde Ildar Dadin der Erste, der nach dem neu geschaffenen Artikel 212.1 des russischen Strafgesetzbuches verurteilt wurde – ein Artikel, der 2014 in Kraft trat und seither selbst den kleinsten Protest bei Wiederholung bestraft. In gewisser Weise ist der Artikel ein Seismograph für die Nervosität des russischen Regimes, die seit den Massenprotesten in russischen Großstädten 2012 offenbar gewaltig ist und nach dem Maidan in der Ukraine noch weiter zunahm.
Ich kenne Ildar Dadin nicht persönlich, aber seine Frau Anastasija Sotowa habe ich kennengelernt. Eine freundliche junge Frau, deren Leben sich derzeit zwischen Aktivismus und Überforderung abspielt. Seit der Verhaftung ihres Mannes erreichen Sotowa häufig Anrufe von Anwälten und Gefangenen, fast überwiegend aus Karelien. Fast immer sind es fürchterliche Geschichten, die die Männer den Anwälten erzählen. Diese versuchen zu dokumentieren, was in den Gefängnissen los ist, sie versuchen, eine Öffentlichkeit zu schaffen, weil es letztlich die Öffentlichkeit war, die ihren Mann geschützt habe, davon ist Anastasija Sotowa überzeugt.
Öffentlichkeit bedeutet Schutz
Denn die Missstände in russischen Gefängnissen sind gewaltig und sie werden geleugnet. Erst kürzlich hat Russland den Vereinten Nationen in einem Bericht dargelegt, wie in Russland die UN-Antifolterkonvention eingehalten wird. Demnach hätten die Verurteilten Rechte, die internationalen Standards entsprechen. Die Gesamtlage sei positiv, der Strafvollzug sei "menschlicher" geworden. Allerdings liegen Bericht und Wirklichkeit offenbar so weit auseinander, dass russische Menschenrechtsorganisationen Wladimir Putin aufgefordert haben, den Bericht zurückzuziehen und zu überarbeiten.
Ein Sonntag im Januar im Moskauer Sacharow-Zentrum, Anastasija Sotowa hatte dazu aufgerufen, sich zu treffen und Briefe an die Gefangenen in Karelien zu schreiben, die sie per Einschreiben zustellen will. Eine Handvoll Interessierter kam tatsächlich, um Fremden zu schreiben, von denen sie lediglich wissen, dass sie kriminell geworden sind und es ihnen in den Gefängnissen in Karelien elend geht. "Was sollen wir schreiben?", fragt jemand. "Man erzählt diesen Menschen unaufhörlich, dass sich niemand für sie interessiert und ihnen niemand helfen wird. Schreibt ihnen, dass das nicht stimmt", sagt Sotowa. "Schreibt ihnen, dass sie nicht vergessen sind." Und dann fügt sie hinzu: "Erwähnt am besten, dass bald Kontrolle aus Moskau kommt, die Gefängnisleitung liest die Briefe ja. Dann hören die Beamten zumindest vorerst mit dem Schlagen auf."
Ildar Dadin wird voraussichtlich in 192 Tagen freikommen. Wegen der vielen erwartbaren internationalen Erschütterungen und politischen Überforderungen wird seine Geschichte dann wahrscheinlich nicht viel Beachtung finden. Vielleicht wäre es kein schlechter Vorsatz für dieses Jahr, ein wenig Öffentlichkeit dort zu schaffen, wo sie jemanden zu schützen vermag. 2017 wird es genug Menschen geben, die das dringend brauchen. |
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