"Tyranneien von rechts und von links"Es lohnt, noch einmal Isaiah Berlin zu lesen: Er ahnte, wie auch heute auf der Suche nach Identität der "Hass gegen die Stolzen, die Glücklichen, Erfolgreichen" wächst. VON THEO SOMMER |
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Dies ist kein normaler politischer Kommentar. Der Text ist entstanden aus einem Zufallsgriff ins Bücherregal, Abschnitt Politische Philosophie. Zufällig fiel mir der 1980 veröffentlichte Sammelband "Das krumme Holz der Humanität" des Oxforder Ideengeschichtlers Isaiah Berlin in die Hand, von mir vor fast einem Vierteljahrhundert vielfach angestrichen, gelb gemarkert und mit Randnotizen versehen. Ich schätzte Berlin (1909–1997) nicht nur, weil er die Erkenntnis des griechischen Denkers Archilochos ausgegraben hatte: "Der Fuchs weiß viele Dinge, aber der Igel weiß eine große Sache." (Shakespeare und Goethe hielt er für Füchse, Plato, Hegel, Nietzsche für Igel.) Vor allem schätze ich sein anregendes politisches Denken, in dem er sich oft auf überraschende Weise wider das Geläufige positionierte. Beim Wiederlesen war ich überrascht, wie erkenntniskräftig seine Gedanken die Problematik unserer Gegenwart beleuchten.
So hat Isaiah Berlin früh schon die prägenden Faktoren unserer Zeit erkannt: zum einen die Entwicklung der Naturwissenschaften und der Technik, zum anderen "die großen ideologischen Stürme": "Tyranneien von rechts und von links, Ausbrüche von Nationalismus, Rassismus und mancherorts auch von religiöser Intoleranz" – sie bestimmen "unsere gewalttätige Welt", davon war er überzeugt.
Isaiah Berlin glaubte nicht an eine ideale Welt. Eine vollkommene Gesellschaft hielt er für einen Traum; hier folgte er Kants ernüchternder Einsicht: "Aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden." Den idealen Staat, "in dem es kein Elend und keine Habgier, weder Gefahr noch Armut, noch Furcht, weder menschenunwürdige Arbeit noch Unsicherheit gäbe", hielt er für ebenso unrealistisch wie die Vorstellung, alle Menschen besäßen gemeinsame Ziele, und am Ende fände die menschliche Natur in zeitlosen universellen Werten ihre Erfüllung. Es gibt keine letzte Lösung für alle Übel, befand er. Und er ging noch weiter: "Die Suche nach Vollkommenheit", meinte er, "scheint immer die Gefahr des Blutvergießens in sich zu bergen."
Wer könnte beim Blick auf unsere unheilvolle Welt leugnen, dass Berlin recht hat?
Und recht hat er wohl auch, zumindest trägt er Bedenkenswertes vor, wenn er sich mit Begriffen befasst, die heutzutage von Kalifornien bis Kamtschatka allenthalben die Leitartikel, die Feuilleton-Essays und die programmatischen Bekundungen der Parteien beherrschen: Identität, Nationalismus, Populismus. Hier nur, for whatever they are worth, einige Stichworte, Zitate, Erwägungen:
Diversität: "Werte, die das Gute und Wahre verkörpern, können aufeinanderprallen." Im Prinzip und in der Praxis kann man nicht alles haben. Jede Gesellschaft, jedes Volk, sogar jedes Zeitalter besitzt "eigene, unverwechselbare Ideale und Maßstäbe, eine eigene Art zu leben, zu denken und zu handeln". Doch kein Volk, keine Kultur, so zitiert Berlin beifällig Johann Gottfried Herder, ist anderen überlegen, jedes Volk, jede Kultur ist nur anders als die anderen. Kein Kampf, der die Menschen zu Opfern, Märtyrertum und Heldentaten anspornt, kann daran etwas ändern, ohne mit hoher Wahrscheinlichkeit in Leiden, Enttäuschung und Scheitern zu münden.
Die Lösung? Nicht Unterdrückung, Grausamkeit, Repression, Zwang in Kauf nehmen, um die endgültige Erlösung der Menschheit zu gewinnen. Vielmehr, so lautet Berlins liberales Plädoyer, die Menschen daran hindern, einander zu viel Leid zuzufügen; jeder Gruppe genug Raum zu gewähren, sich nach ihrer Eigenart zu verwirklichen, ohne mit den anderen in Konflikt zu geraten. Man fühlt sich da an den Satz des jüngst verstorbenen deutschen Philosophen Odo Marquard erinnert: "Es kommt nicht darauf an, die Welt zu verändern, es kommt darauf an, sie zu verschonen."
Nationalismus und Populismus (Diesen Ausdruck verwendete der Oxford-Intellektuelle schon vor 40 Jahren!): Freiheit, so zitiert Berlin Hegel, heißt "bei sich selbst sein". Die Menschen hängen an ihrer Sprache, ihren Institutionen, Gewohnheiten, Lebensformen. Sie können ihre schöpferischen Kräfte nur auf heimischem Boden zur Entfaltung bringen, unter anderen, die ihre Sprache sprechen und bei denen sie sich heimisch, denen sie sich zugehörig fühlen. Gruppe, Kultur, Nation sind seine Elemente.
Isaiah Berlin erkennt dieses Bedürfnis nach nationaler Identität an, aber er sieht auch, wie daraus Fremdenfeindlichkeit erwachsen kann, erbitterte und aggressive nationale Selbstbehauptung, die krankhafte Übertreibung der eigenen wirklichen oder eingebildeten Vorzüge zu "Groll und Hass gegen die Stolzen, die Glücklichen, Erfolgreichen". Gesunder Nationalismus und Patriotismus verwandelt sich dann in um sich schlagende Furcht vor "zersetzenden" Tendenzen, die bekämpft werden müssen, um wenigstens eine Insel der Reinheit, des "integralen" Lebens zu bewahren.
Wir haben diesen Prozess auf unheilvolle Weise erlebt – und spüren ja auch jetzt wieder einmal den Anhauch von pathologischem Widerstand gegen die bestehende Ordnung.
Berlin gibt uns keine Handlungsanweisungen. Doch verbürgt die Lektüre seiner Überzeugungen und Anschauungen manchen Erkenntnisgewinn. Das hilft wenigstens indirekt, die heutige Welt zu verstehen, in der die alten Voraussetzungen und Gewissheiten über Nacht zerronnen sind.
Eine Einsicht Berlins spielt unmittelbar in unsere innenpolitische Diskussion "Wie viel Freiheit, wie viel Sicherheit" hinein. In einem Satz lautet sie: "Die völlige Freiheit der Wölfe ist der Tod der Lämmer."
Ins außenpolitische Stammbuch jedoch gehört sein Befund: "Kriege, Attentate, extreme Maßnahmen können in ausweglosen Situationen erforderlich sein. Aber die Geschichte lehrt uns, dass sie selten das zur Folge haben, was man von ihnen erwartete." Die Folgen der Folgen von Folgen sind unbekannt. "Das Beste, was man erreichen kann, ist in aller Regel die Aufrechterhaltung eines prekären Gleichgewichts, das ausweglose Situationen, in denen unerträgliche Entscheidungen zu treffen wären, vielleicht gar nicht erst entstehen lässt." |
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