Meine traurige Türkei Hass, Verrohung, Gleichschaltung: Entsetzt sehe ich, was die Regierung aus meinem Land gemacht hat. Vielleicht hilft nur, dass die EU den Handel mit der Türkei aussetzt. VON EYLEM ÖZDEMIR-RINKE |
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| | Polizeipräsenz nach einer Demonstration in Diyarbakır im Oktober 2016 © ILYAS AKENGIN/AFP/Getty Images |
Wer soll bei dem Geschehen in der Türkei noch hinterherkommen! Freunde von mir fragen noch nach dem Anschlag an Silvester in Istanbul, da gibt es schon den nächsten in Izmir. Allein im vergangenen Jahr kamen 372 Menschen bei Terroranschlägen ums Leben. Seit fast fünf Monaten herrscht der Ausnahmezustand und es scheint, als würde dieser Zustand nicht mehr enden: Das türkische Parlament wird bald eine neue präsidiale Verfassung verabschieden. Sie wird ein Anschlag auf alle, die jemals von einer freien Türkei geträumt haben. Sie wird ein langer, vielleicht sogar ein immer währender Ausnahmezustand.
Ich weiß gar nicht, was ich sagen, schreiben soll über ein Land und eine Gesellschaft im Getümmel von Gewalt, Unwissen und mangelnder Wertschätzung; eine Gesellschaft, in der es uns nicht einmal mehr gelingt, um die Toten der Anschläge zu trauern, in der wir uns noch auf Beerdigungen gegenseitig attackieren – sogar auf den Beerdigungen der Anschlagsopfer wird Politik und Propaganda betrieben.
Die Türkei ist nicht nur unfähig zu trauern, sie sieht auch völlig anders aus als jene, die ich einmal gekannt und geliebt habe. Diese Türkei, die heutige, ich erkenne sie nicht wieder. Mein Land hetzt gegen Menschen wie mich einen Mob, der Nahrung und Kraft aus Hass und Gewalt bezieht. Überall, auf der Straße, in den sozialen Medien, im Fernsehen, sogar auf dem Balkon bei den Eltern meiner gleichaltrigen Nachbarin in Antalya: Überall wütet Menschen wie mir Hass entgegen – Menschen wie mir, die seit Jahren für die Demokratie auf die Straße gegangen sind und die nun als "Terroristen" beschimpft werden. Ja, es ist nicht schwer, in der Türkei als Terrorist beschimpft zu werden.
Wie gelähmt
Wie soll es möglich sein, eine gemeinsame Sprache zu sprechen, wenn sich die Bürger der Türkei mehr und mehr in Horden von Fanatikern, Manipulierten, Ahnungslosen, Rachsüchtigen und Hassgelenkten verwandeln, die nichts von Dialog, Demokratie, Frieden und/oder Säkularem neben islamischen Lebensformen verstehen wollen?
Unmöglich, es wird unmöglich gemacht: Die Zeitungen, das Fernsehen, die Universitäten, Gerichte, Theater und bald auch das Parlament, alles ist gleichgeschaltet und auf Linie gebracht und peitscht den Hass durch das Land, und ich stehe da wie gelähmt.
Offenbar weiß auch die EU nicht, wie sie mit der Türkei umgehen soll. Und man kommt ja auch nicht umhin zu fragen, wie denn diese Türkei in die EU hineinkommen soll. Eine der bedeutendsten Errungenschaften der politischen Kultur in Europa ist der Dialog. Das klingt fast nach Sonntagsrede, aber für die Türkei wäre so eine politische Kultur des Dialogs der allererste Schritt. Wir Türken wissen allerdings gar nicht, was das ist: Dialog. Wir wissen nicht, welche aktive, gestalterische, kreative und wichtige Rolle man selbst beim Zuhören haben kann.
Omnipotente neue Sultansherrlichkeit
Um den Preis, derjenige zu sein, der nachgibt, gelang es Europa bisher, diesen Dialog in den Beziehungen zur Türkei aufrechtzuerhalten. Dafür bin ich sehr dankbar. Das Beharren der Europäer, "im Dialog" zu bleiben, führte dazu, dass der Türkei-Besuch des deutschen Außenministers im November vergangenen Jahres in Ankara von der Regierungspartei der AKP als Machtdemonstration benutzt wurde und die Regierungspresse Herrn Steinmeier sogar verspotten konnte, während sein Versuch zu reden, in der deutschen Hauptstadt als angemessene Politik, als Diplomatie aufgefasst wurde.
Angemessenheit, Diplomatie – was für absurde Worte für die türkische Politik dieser Tage. Ein türkischer Politiker muss derzeit Stärke und Macht demonstrieren, er muss imponieren, überlegen wirken, er muss herrschen, laut sprechen, ja schreien. So wie Herr Steinmeier, mit Höflichkeit, Diplomatie und Dialogbereitschaft, wird man nicht Sultan. Schon wie der deutsche Außenminister neben dem Präsidenten der Türkei saß, es sagte alles. Hier die westliche Diplomatie des immer währenden Dialogs, dort die omnipotente neue Sultansherrlichkeit, die da saß als halte sie gerade Audienz ohne hinzuhören.
Und was sagt Ankara, wenn es schon nicht zuhört? "Liebt und akzeptiert mich, so wie ich bin!" Die Verhaftungen und das Zerschlagen der regierungskritischen Medien und der kritischen Öffentlichkeit – zugegeben: eine kleine Restöffentlichkeit – begründet man mit dem Kampf gegen den Terror. Dabei weiß man seit 35 Jahren, dass dieser Kampf nichts gebracht hat außer Hass, Gewalt, erneutem Hass, erneuter Gewalt und Tod. Diejenigen, die Frieden im Land wollen und darüber offen reden, werden zu Terroristen erklärt und weggesperrt. Und immer noch können die Regierenden dreist behaupten: "Es geht uns hier gut, unser Volk will das so."
Wie soll die EU so eine Türkei aufnehmen?
Dabei geht es den Türken gar nicht gut. Es ist klar, dass es uns auf diese Weise nie gut gehen wird. Elf Abgeordnete einer Partei, die mit sechs Millionen Stimmen ins Parlament gewählt wurde, sind verhaftet worden. Bürgermeister in den kurdischen Gebieten, Journalisten und für Frieden eintretende Akademiker wurden verhaftet und in verschärfte Einzelhaft gesetzt. Das Recht ist im Ausnahmezustand ausgesetzt. Es gibt keine Freiheit, keine freien Gerichte mehr, keine Journalisten, die Unrecht noch öffentlich anklagen können.
Wie soll die EU so eine Türkei aufnehmen? Nun ja, auch wenn die Verhandlungen offiziell nicht abgebrochen wurden, sieht es doch so aus, dass keine neuen Kapitel mehr aufgemacht werden. Die Regierenden in der Türkei haben derzeit ohnehin kein Interesse an einer Vollmitgliedschaft. Das lässt sich einer Aussage von Wirtschaftsminister Zeybekçi deutlich entnehmen: "In ein bis anderthalb Jahren wird die Zollunion revidiert. Ist das durch, müssen wir nicht mehr Vollmitglied der EU werden. Visumfreiheit und so weiter sind sekundäre Fragen."
Zollabkommen aufkündigen
Offenbar führt die EU einen Dialog mit einem Partner fort, der überhaupt keinen Dialog mehr will! Den Regierenden in Ankara ist schon klar, dass es in absehbarer Zeit keine Visumfreiheit geben wird. Deshalb haben sie zur Beschwichtigung 15.000 grüne Pässe – ähnlich den Diplomatenpässen – an Exportunternehmer verteilt.
Trotz allem ist die EU weiterhin Wirtschaftspartner der Türkei, ein Partner, der die Wirtschaft der Türkei am Laufen hält und überleben lassen wird. Jene Zollunion, von der der türkische Wirtschaftsminister gesprochen hatte, ist die Basis für dieses wirtschaftliche Überleben. Das 1997 unterzeichnete Abkommen kommt Anfang 2017 auf den Prüfstand.
Doch was wird diese Prüfung ergeben, wie wird die EU sich dazu stellen? Soweit man hört, haben deutsche Firmen, die in der Türkei investiert haben und sich weitere Profite erhoffen, bereits mit Lobbyarbeit bei der Regierung begonnen. Sie wollen einen Ausbau der Zollunion, natürlich! Die Frage ist also, ob die EU an diesem Punkt in der Lage ist, zu sagen: Wir kündigen das Zollabkommen auf, es sei denn, ihr hört auf, die Menschenrechte zu verletzen.
Die europäischen Werte
Insgeheim hoffe ich auf so einen Satz. Ich träume von so einem Satz, auch wenn er meinem Land, meinen Eltern, meiner Schwester und allen Freunden, die dort – noch – leben, schaden würde, zumindest kurzfristig wirklich schaden würde.
Doch wie kann man einem Land, das auf der Liste der Schwarzgeldwäscher ganz oben steht, in dem Unregelmäßigkeiten aller Art und Ungesetzlichkeit in allen Bereichen herrschen, in dem die Menschen Angst haben, aus dem Haus zu gehen, ihre mehrheitsunfähige Meinung zu sagen, zu demonstrieren, zu feiern, zu trinken, Angst haben, nicht zu beten, nicht "Allah" zu rufen und in den nationalen Hass einzustimmen – wie kann man mit so einem Land Handel treiben? Darf man das? Steuert nicht eine Gesellschaft, die solchen Handel treibt, irgendwann selbst in den Abgrund, weil sie es nicht wirklich ernst gemeint hat mit ihren Werten?
Traurig, dass ich das sagen, schreiben muss. Mein Vater ist Farmer, er treibt Handel mit Deutschland. Die besten, schönsten und unschuldigsten Auberginen, Avocados, Zitronen. Manchmal laufe ich über den Markt in Kreuzberg und denke: Die sind von meinem Vater aus der Türkei.
Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe
Eylem Özdemir-Rinke wurde 1978 in Antalya geboren, ist Tänzerin und Mitgründerin der Performance-Company Zeitgetroffen Kollektiv sowie des Workshop-Laboratoriums a.c.t für Visual Art & Movement. Sie unterrichtet zudem an der International School in Berlin. Sie ist Gastautorin von "10 nach 8". Sie wollen der Diskussion unter dem Text folgen? Hier geht es zum Kommentarbereich. |
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