Seit Oktober 2015 macht ein Zitat des österreichischen Außenministers Sebastian Kurz die Runde. In einem Interview zu seinen Forderungen nach mehr Grenzen und weniger Zuwanderung sagte der talentierte Herr Kurz damals: "Man ist nicht rechts, wenn man Realist ist."
Das Zitat wandert seitdem durch Blogs, über Facebookseiten der AfD und der CSU. So wie die Bezeichnung "Realitätsverweigerer" gehört es längst zum Debattenarsenal derer, denen es nun wirklich mal reicht mit Solidaritätsansprüchen und Idealen. Es bildet sich eine neue Koalition der Freunde der Realität.
Der Verweis auf die Realität dient ihnen dazu, die eigene Position über das profane politische Links-Rechts-Spektrum zu einem wertvolleren Dritten zu erheben. Wer die Realität auf seiner Seite hat, braucht keine Argumente mehr.
Dabei versteckt sich hinter dem behaupteten Realismus meist gleich ein ganzer Haufen an Interpretationen, Annahmen, Interessen. Um zu Sebastian Kurz' Satz zurückzukommen: Ja, Realität ist, dass 2016 mehr Ausländer in die EU, vor allem nach Deutschland, gekommen sind als in den Jahren zuvor. Ob aber die Länder damit "überfordert" sind und deshalb, wie Kurz es forderte, die europäische Außengrenze vollständig abgeriegelt werden muss und Asylanträge nur noch außerhalb entgegen zu nehmen sind: das ist Interpretation.
Anderes Beispiel: Realität ist, dass auch Zuwanderer Verbrechen begehen. Eine (natürlich zulässige) Interpretation ist, Straftaten dann für ein größeres Problem zu halten, wenn sie von Zuwanderern begangen werden.
Doch der Realist duldet keinen Widerspruch. Es liegt ja alles offen und unwiderlegbar vor ihm. Wer Augen und Ohren hat und einen "gesunden Menschenverstand", der muss sehen, wie er sieht. Alle anderen müssen somit irgendwie krank sein. Nicht nur die Junge Freiheit erklärt deshalb Grünen-Politiker zu "pathologischen Fällen".
Überhaupt, die Grünen. Als Idealisten sind sie die natürlichen Gegner der neuen Realisten. Sie hören einfach nicht auf, der Welt ihr Ungenügen vorzuhalten. Das macht sie für die Freunde der Realität so unerträglich. Der große US-Journalist und liberale Autor Sidney J. Harris schrieb: "Wenn sich ein Mensch Realist zu nennen beginnt, kann man sicher sein, dass er etwas vorhat, dessen er sich insgeheim schämt." Die grünen Idealisten beharren auf jener Scham, die sich der Realist nicht eingesteht.
Der Realist inszeniert sich zugleich als Widerständler
Die Grünen-Vorsitzende Simone Peter erlaubte sich Anfang des Jahres, auf den offenkundigen Widerspruch hinzuweisen zwischen der Polizeipraxis in der Silvesternacht in Köln und dem Anspruch, Menschen nicht nach Hautfarbe zu behandeln. Sie machte keine Vorschläge, wie mit der konkreten Situation anders und besser zu verfahren gewesen wäre, sie beließ es also bei der Anklage. Auch das ist bequem. Die Bild-Zeitung diffamierte Peter daraufhin als "Grüfri": als "Grün-Fundamentalistisch-Realitätsfremde Intensivschwätzerin".
Da kommt zum Vorwurf der Realitätsfremdheit gleich noch der des Schwätzens hinzu. Denn Schwätzen tun nur die Schwachen und Verblendeten. Der Realist träumt auch nicht, er handelt. Er tut, was getan werden muss – oder fordert es zumindest von den Politikern. Der Realist spricht gern "unbequeme Wahrheiten" aus, er redet Klartext, und nennt die Dinge bei den Namen, die er für die richtigen hält. Weil es ja sonst keiner macht. Diese Attitüde erlaubt es dem neuen Realisten, zugleich Definitionshoheit zu beanspruchen und sich als Widerständler zu inszenieren.
Das Ergebnis: Die Grenzen verschwimmen. Wenn man lange genug Wahrnehmungen und Interpretationen als Realität ausgibt, ist es bald nicht mehr selbstverständlich, dass sie das eben nicht sind. "Perception is reality", Wahrnehmung ist Realität, erklärte der Berliner AfD-Spitzenkandidat Georg Padzerski im Wahlkampf, um auch noch das letzte Ressentiment zum politischen Argument zu adeln. Und in den USA hat die neue Regierung ebenfalls schon den nächsten Schritt genommen. Hier soll es keine unbestreitbaren Fakten mehr geben, sondern nur noch "alternative facts". So verschwindet die Realität.
Wirklich realistisch zu bleiben, hieße, den Begriff nicht inflationär zum eigenen Vorteil zu nutzen, sondern nur da, wo er wirklich trifft. Vorgemacht hat das Rudi Völler. Der wurde wegen seiner unzähmbarer Locken "Tante Käthe" genannt und schätzte die Lage auf seinem Kopf unwiderlegbar richtig ein, als er sagte: "Was meine Frisur betrifft, da bin ich Realist." |
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