Was ist Reiten? Vom Rücken eines Pferdes aus betrachtet man die Welt ganz anders. Worin liegt nur das Geheimnis dieser empfindlichen, seltsamen Tiere? Eine Liebeserklärung VON JENNY FRIEDRICH-FREKSA |
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| | Am schönsten sind die Ohren und Augen. © Reuters/Ian Hodgson |
Ein Pferd ist ein großes Tier. Will man hinauf, braucht man einen Zwischenhalt, etwas, das den Weg nach oben verkürzt und einen kurzen Moment Sicherheit gibt, wenn deine Beine den Boden verlassen. Dafür ist der Steigbügel da. Er ist in einen Lederriemen geschnallt, den man sich vor dem Reiten auf die eigene Beinlänge einstellt. Man misst sie am Arm. Reicht der Riemen mit dem Steigbügel von den Fingerspitzen bis unter die Achselhöhle, hat er die richtige Länge.
Der linke Fuß verlässt den Boden und steigt mit einem großen Schritt hoch in den Bügel.
Ein ruhiges, wohlerzogenes Pferd bleibt stehen, während du aufsitzt. Freigeistigere Tiere marschieren bereits los, wenn du gerade mit einem Bein im Steigbügel steckst. Man hat dann die Wahl: mit dem anderen Bein nachhüpfen und sich noch irgendwie hochhieven. Oder schnell wieder aus dem Bügel schlüpfen, mit dem Pferd schimpfen, und wieder von vorn anfangen: Zügel in die linke Hand, rechte Hand an den Sattel, linken Fuß in den Steigbügel. Der rechte Fuß wippt kurz und schwingt sich samt Bein über den Pferderücken. Dann ist man oben.
Von hier sieht die Welt anders aus, irgendwie dreidimensionaler. Baumkronen und Himmel kommen näher, Autos werden kleiner, die Erde ist weiter weg. Unten sind nicht mehr die eigenen Füße, sondern ein leerer Raum. Mit dem Boden bist du nur noch über die langen schmalen Beine des Pferdes verbunden, die jetzt loslaufen, und den Mittelpunkt deines Körpers, den Bauch und die Hüften, mit einem Ruck in einen neuen Rhythmus setzen. Das Becken schwingt von links vorne nach rechts vorne und zurück, während du langsam die Zügel aufnimmst, die deine Finger mit dem Pferdemaul verbinden. In dem Maul liegt ein Metallgebiss. Es hängt auch an den Zügeln, die du hältst. Sie laufen zwischen Ringfingern und kleinen Fingern in deine Hände hinein, und zwischen Zeigefinger und Daumen wieder heraus. Auf den ersten Metern im Schritt spielst du ein bisschen mit den Ringfingern. Es ist so, als würden deine Hände dem Pferd sagen: "Hallo, ich bin's, die von oben. Alles klar bei dir da vorne?"
Menschen reiten an sehr unterschiedlichen Orten, in Dressurvierecken und auf Galopprennbahnen, im Zirkus und auf dem Rummel, in Reithallen oder auf Poloplätzen. Und natürlich draußen, wo plötzlich ganz viel Platz ist, sobald man Hof und Stallungen verlässt. Jetzt, im Januar, wenn Raureif auf den Feldern liegt oder ein bisschen Schnee, reitet man hinein in eine große weiße Weite. Das Pferd hat einen frischen Schritt, denn es ist kalt trotz der Wintersonne, die auf den langen Hals scheint. Ihr Licht blitzt immer mal in der rotbraunen Mähne auf. Es gibt vieles, was schön ist an einem Pferd: die großen dunklen Augen, der runde Bauch, die zarten Fesseln. Am schönsten aber sind die Ohren. Außen haben sie richtiges Fell, innen einen dichten Haarflaum, und selten stehen sie still. Sie können aufmerksam nach vorne schauen oder furchtsam nach hinten gelegt sein. Sie lauschen zu dir hin, wenn du mit dem Pferd sprichst, und von dir weg, wenn in der Ferne ein Geräusch zu hören ist. Es ist anatomisch unmöglich, einem Pferd während des Reitens ins Gesicht zu schauen, aber die Pferdeohren sind ein gutes Stimmungsbarometer. Sie erzählen eigentlich ununterbrochen, wie es so läuft.
An einem klaren Wintertag, wenn sich die Bäume zart vor dem lilablauen Himmel abzeichnen und ab und zu sogar ein letztes Grasbüschel vom Sommer am Wegesrand zum Naschen einlädt, sind alle Geschöpfe zufrieden mit der Welt. Das Pferd schreitet weit aus in die Landschaft, du schwingst mit, die Ringfinger unterhalten sich mit dem Pferdemaul, die Pferdeohren horchen nach nah und fern.
Du lässt das Pferd traben: Über die Zügel gibst du dem Maul ein kleines Zeichen. Du spannst dein Kreuz an – so, als würdest du auf einer Stuhlkante sitzen und einmal kurz kippeln. Das Pferd spürt die Bewegung, und es spürt auch deine Unterschenkel, die mit leichtem Druck links und rechts am Pferdekörper anliegen.
Trab ist ein Zweitakt, das linke Vorderbein des Pferdes tritt zugleich mit seinem rechten Hinterbein auf, dann das rechte Vorderbein mit dem linken Hinterbein. Dazwischen liegt eine kurze Schwebephase, in der kein Bein den Boden berührt. Um den Rücken des Pferdes und sich selbst beim Ausreiten zu schonen, hebt man sich nach jedem halben Trabtakt aus dem Sattel. Es sieht aus, als würde der Reiter kurz aufstehen und sich wieder setzen. In dieser Bewegung kann man sehr lange am Stück durch die Gegend traben, man wird nicht müde, und das Pferd auch nicht. "Leichttraben" heißt die Technik heute, "Englisch traben" nannte man sie früher einmal, weil es Engländer waren, die diese Sitzweise erfanden, ursprünglich wahrscheinlich, damit auch weniger gute Reiter Jagden über lange Strecken mitreiten konnten.
Reiten ist ein exzellenter Angeber-Sport
Du trabst mit dem Pferd durch den Wald. Unter dir federn die Hufe auf dem Waldboden. Die Nachmittagssonne bricht durch die Äste und macht die Welt weich. Leicht und gleichmäßig schnauft das Pferd. Manchmal schrappt ein Zweig über deine Schulter, und du musst dich ducken. Irgendwo fliegt ein Vogel auf, ansonsten ist es still.
Woher die Liebe zu Pferden kommt, ist ebenso schwer zu klären wie die Frage, warum man einen bestimmten Menschen liebt und einen anderen nicht. Sicher ist, dass die Zuneigung zu Pferden in vielen Fällen eine Familienangelegenheit ist. Bekanntermaßen ist jede Familie auf ihre Art verrückt, das trifft auch auf die Bereiche Sport und Tiere zu. Es gibt Meerschweinchenfamilien und Hundefamilien, es gibt Familien, die Ski fahren, und Familien, die Rugby spielen. Und es gibt Mischformen, etwa Familien, die Reptilien halten, aber auch Tennis spielen. Pferdefamilien haben es da organisatorisch leicht: Man liebt Pferde, also wird geritten. Oder umgekehrt. Im Reiterland Deutschland wird die Pferdeliebe seit etwa drei Generationen vor allem an die Frauen weitergegeben. Von den Großmüttern, die einst im Damensitz durch Ostpreußens Wälder sprengten, an die Töchter, die selbstverständlich breitbeinig im Sattel saßen, bis zu den Enkelinnen, die von allem das Beste wollten – die schmalen Reitjacken der Großmütter und den lässigeren Reitstil der Mütter. Die Männer allerdings, all die Großväter, Väter und Söhne, sind im Pferdemilieu seltsam unterrepräsentiert. Es gibt die These, dass Jungen sich auf Ponyhöfen allein unter Pferdemädchen einfach nicht wohlfühlen, und insofern keine gesunde Mann-Pferd-Bindung entwickeln können. Möglicherweise hat alles aber weniger mit dem Heute als mit dem Gestern zu tun, mit dem Moment, als vor hundert Jahren das Automobil das Pferd als Fortbewegungsmittel ablöste.
Die Frauen damals, unsere Urgroßmütter, blieben den Trakehnern treu, und waren als Autofahrerinnen für lange Zeit nur schwach vertreten. Ihre Männer jedoch stiegen auf Benz Patent-Motorwagen, und wenn sie es sich leisten konnten, bald auf Maseratis um. Die neuen Autos waren einfach moderner als die seit Jahrtausenden gleich aussehenden Pferdemodelle, und Autofahren irgendwie cooler als Reiten: Motorröhren statt Wiehern, Lack statt Leder, und vor allem mehr Geschwindigkeit. Es wäre allerdings etwas zu simpel zu behaupten, dass Männer gerne smart in Cabrios durch die Landschaft brettern, während Frauen bescheiden zu Pferde in Wald und Wiese bei den Blümelein glücklich sind. Denn Reiten ist ein exzellenter Angeber-Sport. Ein so starkes Tier wie ein Pferd zu beherrschen kann viel hermachen. Besonders schön ist das in einer Szene des Filmklassikers Giganten zu sehen. Bick Benedict (Rock Hudson) möchte ein Pferd kaufen, den Hengst Westwind (gespielt von dem herrlichen Rappen Highland Dale, bekannt auch aus Black Beauty, Fury und Bonanza). Auftritt Leslie Lynnton (Liz Taylor) auf Westwind: Zuerst springt sie mit ihrem Pferd rasch über ein paar Zäune, um dann vor dem in einem offenen Wagen sitzenden Bick kurz zum Stehen zu kommen. Lässig lacht sie auf den schwer beeindruckten Mann herunter, bevor sie auf dem Hengst davonfegt. Rock Hudson verliebt sich in beide, in die Angeber-Frau und in ihren Hengst.
Du fühlst dich sehr frei
An einem Winterwundernachmittag denkt man selten über Filme von 1956 nach. Überhaupt denkt man beim Reiten wenig. Pferde haben eine solche Präsenz, dass du deine Aufmerksamkeit nicht allzu lange in abgelegene Gedankenschleifen stecken kannst.
Die Bäume lichten sich. Am Waldrand stehen zwei Rehe und starren herüber. Ein paar Momente schauen die Rehe uns an, dann hüpfen sie davon.
Vor uns liegt eine große Wiese. Das Pferd tänzelt auf der Stelle, es will los. Du verlangst mit Zügel und Schenkeln, dass es nicht rennt, sondern gleichmäßig trabt. Dann erst galoppierst du an. Du gibst dem Pferdemaul ein Zeichen und belastest leicht eine Seite deines Pos – des "Gesäßes", wie Reiter es nennen. Auf derselben Seite legst du deine Wade ans Pferd, auf der anderen Seite auch, aber eine Handbreit weiter hinten am Pferdekörper. Das Pferd holt aus, und hopp, bist du in dem neuen Rhythmus. Das Pferd springt jetzt in einem Dreitakt, zwischen den Sprüngen gibt es eine längere Schwebephase, in der es mit allen vier Beinen den Boden verlässt, dann setzt es wieder auf. Galoppieren ist eine angenehme Bewegung. Es ist ein bisschen so, als säße man auf einer Wippe und würde immer wieder nach oben geworfen werden. Die Wippe ist allerdings warm und lebendig, ein großer, rotierender Körper. Wenn man den Einklang mit ihm findet, sich auf einen Rhythmus einigt, wird die gemeinsame Bewegung fließend, unangestrengt und leicht.
Das Pferd zieht das Tempo an. Du gibst mit der Hand am Zügel nach und lässt es laufen. Die Sprünge werden länger, der Pferdehals auch, das ganze große Tier streckt sich unter dir nach vorn. Du stehst in den Steigbügeln, die Knie fest an den Sattel gepresst. Die Absätze deiner Stiefel wippen mit jedem Sprung nach unten. Die Landschaft fliegt vorbei, der Horizont ist leer. Vor dir liegt nur ein großes Nichts und der schmale Rand, dort, wo die Felder in den Himmel übergehen. Du fühlst dich sehr frei.
Es ist wie bei den Menschen
Das Pferd rast jetzt. Mit dem Kopf liegt es auf den Zügeln, du kannst nur noch schlecht auf das Gebiss im Maul einwirken. "Laaangsam", sagst du beruhigend, doch das Pferd klappt nicht mal ein halbes Ohr nach hinten. Seine ganze Kraft drängt vorwärts. In solchen Augenblicken kippt deine Herrschaft, das Tempo wird unkontrolliert. Pferde sind Fluchttiere. Auf vermeintliche oder echte Bedrohungen reagieren sie mit Weglaufen. Hier auf der Wiese lauert keine Gefahr, aber würde jetzt etwas Unvorhergesehenes passieren, würde etwa ein Jäger am Waldrand einen Schuss abgeben, wäre es möglich, dass dir das Pferd durchgeht, dass es kein Halten mehr gibt. Auf einem durchgehenden Pferd zu sitzen, ist nicht schön. Man muss dann vor allem versuchen, ruhig zu bleiben. Du darfst nicht hektisch am Zügel ziehen, sondern nimmst gleichmäßig und energisch die Zügel an und lässt sie wieder los, immer wieder. Gleichzeitig versuchst du, das Pferd zu verlangsamen, indem du es in einen Kreis lenkst, denn in der Drehung muss es sein Tempo vermindern. Du verkleinerst den Kreis so lange, bis das Pferd sich kaum noch drehen kann. Jedes rennende Pferd hört irgendwann auch wieder damit auf, idealerweise, so lange der Reiter noch oben ist.
Dir geht heute kein Pferd durch, zum Glück. Aber du solltest jetzt doch mal die Geschwindigkeit drosseln. Das Pferd atmet schon schwer, rennt aber immer noch. "Langsam", sagst du laut und mit tiefer Stimme und setzt dich energisch nach hinten in den Sattel. Das Pferd fällt in einen zuckeligen Trab. Die Verbindung zum Maul wird wieder besser. Du spielst mit den Ringfingern, lässt das Pferd schließlich im Schritt gehen und klopfst ihm den Hals. Jetzt wollt ihr beide nach Hause.
Über dem Stall liegt die Abenddämmerung, es ist friedlich. Auf den Koppeln grasen die Pferde. Es gibt große und kleine, dicke und dünne, griesgrämige und aufgeräumte, es ist wie bei den Menschen.
Im Hof steigst du ab. Du nimmst den Sattel herunter und bringst das Pferd auf die Koppel. Nach ein paar Schritten knickt es die Vorderbeine ein und lässt sich auf den Boden sinken. Grunzend rollt es im Sand herum, um sich am Rücken, dort wo der Sattel lag, zu jucken. Du wäschst währenddessen das Metallgebiss des Zaumzeugs am Wasserhahn ab, ziehst die Reitstiefel aus und räumst den Sattel in die Kammer.
Bevor du dich ins Auto setzt, gehst du noch mal zur Koppel. Du steigst durch den Zaun auf die Weide und schaust dir die Pferde an, diese empfindlichen, seltsamen Tiere. Eines ist mit einer dicken Sandschicht eingestaubt. Es hebt jetzt den Kopf, sieht dich und wiehert zu dir herüber. Nein, eigentlich ist es kein Wiehern, eher ein etwas rostig klingendes Grummeln. Das Pferd löst sich aus der Gruppe und stakst auf dich zu. In der Mitte der Koppel trefft ihr euch. Das ist der schönste Moment des Tages. Bevor es zu pathetisch wird, steckt das Pferd seine Nase in deine Jackentasche und schaut, ob du vielleicht eine Möhre dabei hast. Das ist Reiten.
Jenny Friedrich-Freksa lebt in Berlin. Sie ist Chefredakteurin der Zeitschrift "Kulturaustausch" und arbeitet als Autorin und Moderatorin mit den Schwerpunkten Internationale Beziehungen, Kultur und Außenpolitik. Sie ist Gastautorin von "10 nach 8". Sie wollen der Diskussion unter dem Text folgen? Hier geht es zum Kommentarbereich. |
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