Kiyaks Deutschstunde: Nazis rein

 
Wenn dieser Newsletter nicht richtig angezeigt wird, klicken Sie bitte hier.

 
Kiyaks Deutschstunde
20.01.2019
 
 
 
 
Was meinen Politiker, wenn sie sagen, was sie sagen? Und: Was meinen sie wirklich? Mely Kiyak sagt’s Ihnen!


Nazis rein
 
Eine Frage lautet: "Bin ich ein Nazi, weil ich Rassist bin?" Dabei suggeriert sie, dass das Schlimmste, was einem widerfahren kann, sei, als Nazi etikettiert zu werden.
VON MELY KIYAK


Neulich kochte es im Diskursstadl, weil sich eine Journalistenkollegin auf Twitter eine politische Randnotiz erlaubte. "Nazis raus" lautete ihre öffentliche Bemerkung. Daraufhin folgte eine Laberlawine der Entrüstung. Die üblichen von Sorgen und Nöten aromatisierten Argumente wurden vorgetragen. Ob denn um Himmels willen mit Nazis auch AfD-Wähler gemeint seien? Schließlich seien es doch zu viele, als dass es sich bei ihnen allen um Nazis handeln könne. So ein Einwand ergibt natürlich nur Sinn, wenn ein wesentliches Merkmal des Rechtsextremismus darin besteht, dass er lediglich einer kleinen erlesenen Gruppe vorbehalten ist. Nazis sind doch keine Nobelpreisträger. Ist ja nicht so, dass man angesichts der großen Menge von Nazis in Deutschland deshalb ins Zweifeln über ihre korrekte Bezeichnung geraten muss, weil es zum Nazisein einer außergewöhnlich geistigen Potenz bedürfen würde. 
 
Sowieso immer diese Quantitätsvergleiche! Als Harald Schmidt vor vielen Jahren in seiner Late-Night-Show den Düsseldorf-Berlin-Vergleich machte, ging es unter anderem um den Partyfaktor der Stadt. Was ist besser: die Berliner Loveparade oder der Düsseldorfer Karneval? Sein Sidekick Manuel Andrack gab zu bedenken, dass man bei der Entscheidung bedenken müsse, dass der Karnevalsumzug in Ehrenfeld, was ein Stadtteil von Köln ist, in der Länge dem gesamten Düsseldorfer Rosenmontagszug um ein Vielfaches überlegen sei. Schmidt konterte darauf: "Was soll das denn bedeuten? Der Zweite Weltkrieg war auch länger als eine Mozartsonate."  
 
Der Nationalsozialismus war eine besondere Ausprägung des Faschismus. Ab den späten Achtzigerjahren wurde bekannt, dass sich Rechtsextreme organisierten, und – obwohl die NSDAP verboten war – deren Parteisymbole und Codes aus jener Zeit übernahmen. Man nannte sie Neonazis, weil man dachte, dass es sich um eine neu gegründete Bewegung handelt. Wie man heute weiß, stimmt das nicht wirklich. Zu den alten, überlebenden Nazis kamen neue Nazis dazu. "Nazis raus" ist gewissermaßen seit 1933 zu allen Zeiten ein berechtigtes Anliegen. Mittlerweile lässt man das "Neo" vor dem Nazi weg. Aus welchem Grund soll man ein kompliziertes Präfix mitsprechen, wenn es sich im Wesentlichen um das alte Denken handelt?
 
Schlechte Erfahrungen an der Bushaltestelle
 
Zu Nazizeiten haben übrigens auch nicht alle Nazis bedingungslos an die Auserwähltheit der Rassen geglaubt. Manche haben die Rassentheorie wahrscheinlich nicht mal begriffen. Es haben ja nicht alle gleich gedacht. Die Abstammungslehre des Vollblutdeutschen vom edlen Germanen wird sich für den Großteil der Nazis ohnehin spätestens beim Anblick in den Spiegel erledigt haben. Vielfach begegnete einem im Spiegelbild statt des großen, blonden Mannes ein kurz geratener Nazi mit fröhlichen, üppigen Rundungen. Wenn man nicht blind oder blöd war, wird man spätestens da begriffen haben, dass es eher unwahrscheinlich ist, dass man ein Umvolkungsopfer ist.
 
Ist ein Rassist automatisch ein Nazi? Ist ein Nazi automatisch Rassist? 
 
Es gibt Extremisten, die völkisch-rassistisch denken. Sie sind heute zumindest in Deutschland eher die Seltenheit. Üblicher ist die kulturrassistische Theorie. Man unterteilt Menschen in Gruppen und spricht ihnen die Möglichkeit eines Zusammenlebens mit "zivilisierten, aufgeklärten, demokratischen, deutschen Christen" ab. Nach Ansicht einiger Rassisten sind sie entweder von Natur aus primitiv (es gibt Radikale, die eine seriöse Intelligenzforschung dafür ausfindig gemacht haben wollen – tatsächlich gibt es keine Untersuchungen, die belegen, dass bestimmte Bevölkerungsgruppen höher entwickelt sind als andere) oder aber aufgrund ihres Glaubens. Das ist seit einigen Jahren in Mode: gesellschaftliche Auffälligkeiten nicht mit politischen Missständen oder struktureller Diskriminierung zu erklären, sondern mit der Zugehörigkeit zu einem vermeintlich rückständigen Glauben. Einem Glauben, der angeblich Schriftgläubigkeit befiehlt, die wiederum zu Gewalttätigkeit aufriefe. Selbst wenn die Mehrheit innerhalb dieser Gruppe nicht religiös ist und nicht praktiziert, meint der Kulturrassist, dass die betreffende Gruppe gewissermaßen unsichtbar mit diesem Glauben kontaminiert ist und unfähig, anders zu sein, als genau so, wie es der Rassist skizziert. Wer das als ausnahmslos gemeinsames Erkennungsmerkmal dieser Gruppe auszumachen glaubt, denkt von sich selbst nicht, dass er Rassist ist, sondern betrachtet sich als kultursensiblen Gesellschaftstheoretiker und Religionskritiker. Fragt man den Rassisten, was in seinen Augen Ideologie ist, wird er eifrig auf diese Gruppe zeigen.

Eine oft gestellte Frage lautet: "Bin ich ein Nazi, bloß weil ich Rassist bin?" Dabei suggeriert die Frage, dass das Schlimmste, was einem in Deutschland widerfahren kann, ist, als Nazi etikettiert zu werden. Allen Rassisten sei versichert: Rassistisch zu denken, die Gleichheit und das Recht auf Würde aller Menschen anzuzweifeln, ist, zivilisatorisch betrachtet, nicht mehr zu unterbieten. Jemanden Nazi zu nennen wirkt schon fast wie ein Entlastungsversuch.     
 
Interessanterweise hat man es viel häufiger mit Leuten zu tun, die gar nicht angegriffen werden, und die sich anwanzen und einem das Ohr abkauen. "Bin ich ein Nazi? Warum bin ich in Ihren Augen ein Nazi? Ich bin kein Nazi. Ich habe schlechte Erfahrungen an der Bushaltestelle gemacht." Die gute Nachricht ist, dass der Verfassungsschutz sich künftig endlich mit dieser Frage beschäftigen wird, ob einer Nazi ist, oder ob er aufgrund einer Taxifahrt, aus seiner aktiven Zeit als Berufsschullehrer oder irgendetwas anderem berechtigt ist, verfassungsfeindlich zu agieren. Ausgerechnet das Bundesamt, das in den vergangenen Jahren ein Biosphärenreservat für die nachhaltige, soziale und ökonomische Entwicklung von Nazistrukturen war, hat sich entschlossen, mit staatlichen Mitteln für #NazisRaus zu sorgen.      
 
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass es offenbar unterschiedliche Auffassungen darüber gibt, was in diesen Tagen echter Widerstand ist. Für die einen bedeutet es, sich radikal solidarisch mit den Geflohenen, den Minderheiten, den Verfolgten und Verzweifelten zu zeigen. Und die andere Gruppe wähnt sich bereits im aktiven Widerstand, wenn sie rechtsextreme Politiker in Schutz nimmt. Sie kommen sich dann vor, als hätten sie gerade eine Aktentasche in der Baracke zur Wolfsschanze abgelegt. 
 
Wie genau schützt man als Bürger eigentlich die Demokratie? Und können sich diejenigen, die sich in den vergangenen Tagen von "Nazis raus" provoziert gefühlt haben, mit der Parole "Nazis rein" besser identifizieren? Würden sie es bedenkenlos twittern können?


Sie wollen der Diskussion unter dem Text folgen? Hier geht es zum Kommentarbereich.