Der Pandabären-Irrtum Menschen brüllen sich an, der Stärkere verliert. Rücksicht verdienen doch nur Kinder, kulleräugige Tiere und Robert Habeck. Ein Plädoyer für mehr Zärtlichkeit im Alltag VON HEIKE-MELBA FENDEL |
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| | Nicht nur lächelnde Pandas verdienen unser Mitgefühl. Auch der brüllende Mann auf der Straße. © Bruce Hong/unsplash.com |
Ein schöner Sommertag in Berlin. Auf dem Weg ins Büro schiebe ich mein Fahrrad über den Bürgersteig einer gepflegten Seitenstraße Richtung Ku'damm. Ein mittelalter Mann kommt mir entgegen. Er brüllt mich an. Was hat er bloß? Anders als gewöhnlich radele ich doch gar nicht im Slalom um rechtmäßig besorgte Charlottenburger Bürger. Allmählich verstehe ich ihn, mindestens akustisch: Mein Frontlicht flackert ihm grell entgegen und das erregt ihn aufs Äußerste.
Nun, das ist Berlin, Menschen regen sich auf. Menschen brüllen herum. Schlechte Laune muss verbreitet werden, wozu hat man sie sonst. Schöner Sommertag hin oder her. Bemerkenswert ist also nicht sein Ausbruch, wohl aber dessen Begründung: "Die Kinder", schreit er, "denken Sie an die vielen kleinen Kinder, die Sie blenden!" Okay, es gibt keine Kinder auf diesem Bürgersteig. Darauf muss ich ihn auch gar nicht erst hinweisen. Es geht ihm, wie er unvermindert lautstark ergänzt, um jene Kinder, die von meinem flackernden Licht geblendet werden könnten. Dessen es zu allem Überfluss ja nicht einmal bedürfe, weil doch helllichter Tag sei.
Die im Konjunktiv ihrer Anwesenheit befindlichen Kinder, der sie heraufbeschwörende Mann und ich, die Frau mit dem sinnfrei beleuchteten Rad – gemeinsam bilden wir mehr als die Summe unserer Absurdität. Unsere Zufallskonstellation ist Sinnbild eines Miteinanders, das sich heillos in einem Stärke-Schwäche-Dualismus verkantet hat.
Vielleicht fühlt sich der Mann ja auch schwach und hilflos
Schwach, hilflos und damit natürlich unbedingt schützenswert ist das Kind an sich. Es muss gar nicht präsent sein, um als Mittel zum Zweck der Empörung zu dienen. Man muss sein Leben, so die Logik dieses Mannes – und nicht nur seine – entlang eines mal mehr, mal weniger naheliegenden Kindeswohles ausrichten. Weil Kinder ein amtliches Recht darauf haben. Vielleicht fühlt sich der Mann, wie er so mittelalt und mittelreich wirkend die gepflegte Straße entlangschlendert, ja auch schwach und hilflos. Vielleicht ist er weniger von meinem Radlicht geblendet als von einer Welt, die für ihn keinerlei Sichtschutz bereithält. An einer solchen Hilflosigkeit allerdings wäre nichts amtlich. Sein Problem. Und das muss er – Achtung, Küchenpsychologie – in die Eindeutigkeit rückverlagern, hier also zu den Kindern. Den schwachen Kindern, oder wie der Moderator Johannes B. Kerner sie während der ZDF-Gala Ein Herz für Kinder unablässig beschrieb: "Die Kleinsten der Kleinen". Mehr Diminutiv war nie.
Vermutlich weiß der mittelalte Herr auch ganz genau, warum mein Radlicht am helllichten Tag eingeschaltet ist. Ja genau: Weil ich eine so hektische wie überlastete Overachieverin bin. Mit viel zu vielen Terminen im sicher schicken Büro am Ku'damm. Die vor- und nachbereitet und pünktlich absolviert sein wollen. Weil ständig irgendein Mensch oder ein Gerät oder ein Sachzwang irgendwas von Menschen wie mir will. Vor lauter Bedienen, Abwehren oder Ignorieren an mich gerichteter Imperative in meinem schicken Büro oder meinem sonstigen schicken Leben, bin ich mir schlicht zu fein dafür, eine Fahrradlampe in den Griff zu kriegen. Mehr Hybris war nie.
Ich und meinesgleichen sind nämlich ohnehin vor allem eins: selber schuld. Auch das ist amtlich. Von wegen, wenn man die Hitze nicht aushält, soll man die Küche verlassen. Der dem einstigen US-Präsidenten Harry S. Truman zugeschriebene Spruch wird seit Jahrzehnten zyklisch herausgekramt und all jenen vor den Latz geknallt, die dumm genug waren und sind, sich Dinge aufzubürden. Die, noch dümmer, sich darüber erdreisten, in den ein oder anderen Zweifel oder gar in die Schwäche angesichts der Bewältigung ebendieser Dinge zu geraten. Dinge, um die sie vielleicht nicht einmal jemand gebeten hat: Firmen gründen, Parteien führen, Kunst machen, Leistungssport ausüben, Seenotrettung auf den Weg bringen, so was halt. Dinge jedenfalls, die die Sprücheklopfer niemals bereit gewesen wären, sich anzutun. Nicht für alles Geld der Welt. Und für gar keins schon mal erst recht nicht.
Der Angriff der Meinung auf die übrige Wahrheit hat gedankliche und biografische Vielfalt plattgemacht. Einzig der Stärke-Schwäche-Dualismus ist platt genug, um das zu überleben und unten als strahlender Sieger herauszukriechen. Selbstbild und Fremdbild haben sich im Entweder-Oder eingerichtet. In die persönliche Lebensweise übersetzt, bedeutet das die Entscheidung für wahlweise Überforderung oder Schonhaltung. In die öffentliche Meinung übersetzt: Verachtung oder Kitsch.
Gehe ich in die sprichwörtliche heiße Küche, also ins Zentrum der Leistungsgesellschaft, kassiere ich dort im Zweifel statt Gehalt oder Honorar Schmerzensgeld. Werde beneidet, verurteilt, gefürchtet, in jedem Fall aber bewertet. Weil, genau: selber schuld. Und wenn irgendwas schiefgeht: Heul doch!
Natürlich sind und bauen wir alle auch Scheiße
Oder ich gehe nicht über Los, nicht in den Druck, ziehe mir keine Niederlagen zu, sondern gehe direkt in den Burn-out, die Hausfrauenehe oder zum Yoga. Oder ich begebe mich in den Schutz einer aktuell eher gehätschelten Bevölkerungsgruppe mit eingebautem Mitleids- oder Solidaritätsfaktor. Also Mütter zum Beispiel. Oder Frauen an und für sich. Jedenfalls solange sie sich nicht – genau – in diese andere Küche begeben, in der es so heiß ist, dass es die längste Zeit dort nur die echten Männer ausgehalten haben.
Letztere fliehen nun jedoch scharenweise in jene Schonhaltung, aus der sich die Frauen aktuell, ebenfalls scharenweise, davonstehlen, um ihren Mann (!) zu stehen und ihre prä-, post- oder antifeministische Geschöpfhaftigkeit zu überwinden.
Das Prinzip als solches kratzt dieser Seitenwechsel nicht. Ob Männer sich soft zeigen, Säuglinge an die Brust wickeln und mit Zustimmung heischendem Blick durch Menschenmengen schreiten oder Frauen sich tough durch Boni-Deals zu ihren Gunsten verhandeln: Die Rollen mitsamt ihren Zuschreibungen werden, ebenso wie das Reiz-Reaktions-Schema, das sie auslösen, getauscht und nicht überwunden.
Mit der Dialektik haben viele Menschen nun mal ähnliche Schwierigkeiten wie mit der Sommerzeit und dem Verhältniswahlrecht. Theoretisch klar, aber praktisch gerade mal wieder vergessen: Werden die Uhren jetzt vor- oder zurückgestellt? Wer kriegt die Erst- und wer die Zweitstimme? Ist mein Gedanke noch Widerspruch oder schon Erkenntnis? Ist er, und das ist womöglich die entscheidende Frage, überhaupt ein Gedanke oder eben doch nur eine gepanschte Fiktion? Wie jene vor dem gleißenden Licht zu schützenden, nicht vorhandenen Kinder oder jene von der im Falle von Dünnhäutigkeit zu verlassenden Küche und jene, nach der sich irgendetwas im Entweder-Oder-Modus begreifen ließe.
Natürlich sind und bauen wir alle auch Scheiße. Trotz oder wegen Kulleraugen, mit oder ohne Karrieregeilheit. Der schimpfende Mann, ich und die beizeiten ja durchaus auch vorhandenen Kinder ebenso wie alle Angehörigen von unter Naturschutz stehenden oder zum Abschuss freigegebenen sozialen Spezies. Wenn wir ihnen und uns das nicht zugestehen, reduzieren wir uns und alles, was wir sind und sein können auf geistiges Kalenderspruchformat.
Die Liebe zum Diminutiv, zur Grammatik des Kindchenschemas etwa, kaschiert den ihr zugrunde liegenden Zärtlichkeitstrieb nur notdürftig. Jenes unbändige Bedürfnis, etwas oder jemanden zu beschützen, dessen Zartheit uns berührt. Und das ist schön und gut. Aber muss es sich dabei wirklich bevorzugt um Babys und kleine Kinder, im Dienste außenpolitischer Bestechungsabsichten verschenkte oder verliehene Pandabären oder Robert Habeck handeln? Kann diese Zärtlichkeit nicht auch jemandem wie etwa einer Theresa May, einem schimpfenden Mann in Charlottenburg oder gar uns selbst gelten – kämpfenden, scheiternden, in der Scheißküche schwitzenden, die selbst eingebrockte Suppe auslöffelnden und austeilenden Deppen?
Ich möchte daher meine gepanschte Fiktion mit einem Appell an den schimpfenden Mann schließen: Erfinden Sie keine Kinder, um eine kaltherzige Geschäftsfrau zu beeindrucken. Seien Sie zärtlich mit sich und allem, was Sie daran hindert, es zu sein. Und die rücksichtlos leuchtende Person schaltet derweil, ganz und gar undialektisch, einfach mal ihre Lampe aus.
Heike-Melba Fendel ist Autorin und Inhaberin der Künstler- und Veranstaltungsagentur Barbarella Entertainment. Sie lebt in Köln und Berlin. Sie ist Mitglied der Redaktion von "10 nach 8". |
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Frauen schreiben jetzt auch abends. Montags, mittwochs, freitags. Immer um 10 nach 8. Wir, die Redaktion von 10 nach 8, sind ein vielseitiges und wandelbares Autorinnen-Kollektiv. Wir finden, dass unsere Gesellschaft mehr weibliche Stimmen in der Öffentlichkeit braucht.
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