Freitext: Ulrike Draesner: Wozu noch lesen

 
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13.01.2019
 
 
 
 
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Wozu noch lesen
 
Ich werfe mich auf die Chaiselongue und schaue Netflix-Serien. Stundenlang. Die spielen so elegant mit literarischen Erzählformen. Brauche ich eigentlich noch Bücher?
VON ULRIKE DRAESNER

 
"Ich binge, also bin ich." © jeshoots/unsplash.com
 

Jüngst lernte ich ein neues Wort kennen, bingen. Mit kennenlernen meine ich: Ich verstehe es jetzt wirklich, sprich körperlich. Wie man hört, kommt es aus dem Englischen, wo es ursprünglich "Gelage" bedeutete. Inzwischen benutzt man es für jede Art exzessiver Stoffzuführung: einen Fressanfall, Komasaufen. Sich stopfen, nicht aufhören können. Auf Englisch hat das Wort auch mit bin, dem Mülleimer, zu tun. Wieder einmal bin ich froh, dass meine Hauptsprache Deutsch ist, ich das also nicht denken muss – lieber halte ich mich an Descartes: Ich binge, also bin ich.
 
So jedenfalls ging es mir über Weihnachten und Silvester. Damit meine ich ausnahmsweise nicht die Nahrungsaufnahme, sondern Netflix & Co. Seit einem guten Jahr bin ich angemeldet. Und was geschieht? Genau – auf der Suche nach einem Wort für mein Verhalten begegnete ich dem b-Verb.
 
Offensichtlich habe ich mir ein kindliches Gemüt bewahrt. Und eine einfache Gehirnstruktur. Mein Belohnungszentrum schreit "mehr!". So werfe ich mich abends auf die Chaiselongue: Episode, Staffel, Serie, Sucht. 45 Minuten und die nächste Folge. Nichts hilft. Ich klicke weiter, bin sauer, dass House of Cards wieder läuft, aber nicht auf dem deutschen Netflix, rege mich auf über deutsche Beschränkungen. Muss das sein? Und warum kann ich nicht zwischen verschiedenen Sprachen wählen? Da gibt es was aufzuräumen, Leute…! Im Übrigen überrasche ich mich damit, was mir gefällt, was nicht. Regelmäßig irrt Netflix sich mit seinen "persönlichen" Empfehlungen. Solange ich anders bin, als der Algorithmus meint, kann ich beruhigt weitermachen.
 
Mein Rücken tut weh, ich verbringe zu viel Zeit mit dem Notebook auf dem Schoß. Decke, Dunkelheit, Nacht. Ich genieße die nächsten Stunden ganz allein mit der Welt der Figuren.
 
Erzähle ich anderen, was ich mache, fallen mir gute Gründe dafür ein. Ich lerne etwas. Über die Welt und unsere Vorstellungen von ihr. Noch dazu auf Englisch. Zudem erfahre ich etwas über das Erzählen von heute. Wie wird es gemacht? Es ist einfach, mich zu "hooken" – ein bisschen Geschichte, und schon zappele ich am Angelhaken wie der Fisch. Sprache wandelt sich. Sehgewohnheiten wandeln sich. Springen und zappen: nein. Unterbrechungen durch Werbeblö, lasse mich in den Stoff ziehen. Die Erfindung der Fernbedienung und die Einführung der Privatsender haben Ende der Achtzigerjahre die Fernsehgewohnheiten revolutioniert. Zeitgleich veränderten sich die Anforderungen an Spannung, Plotpoints, Erzähleinheiten. Kurzteilig. Schnell – sonst switchen sie weg. Mehrspurig. Durchaus auch selbstironisch. Durchbrechen der vierten Wand: Zeige der Zuschauer*in, dass du weißt, dass sie da ist.
 
Dies ändert sich nun erneut. Es entsteht wieder mehr Zeit. Allerdings getaktet im Episodenformat. 45 Minuten, mit Cliffhanger. Wie einst, als Romane in Zeitungsfortsetzungen veröffentlicht wurden.

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