Stellen Sie sich vor, Sie kaufen ein Auto, das 15 Jahre auf dem Buckel hat. Ein guter Freund rät ihnen, den Wagen vor der ersten großen Fahrt durchchecken zu lassen, weil nach einer derart langen Betriebsdauer vielleicht das eine oder andere in Ordnung gebracht werden müsse.
Würden Sie ihren Freund für verrückt erklären? Für ängstlich? Für übervorsichtig? Wahrscheinlich nicht. Doch so ungefähr ist die Stimmung im Land, seit die SPD am vergangenen Wochenende eine "tiefgreifende" Sozialstaatsreform angekündigt hat – fast 15 Jahre nach der Einführung von Hartz IV durch eine rot-grüne Bundesregierung.
In diesen 15 Jahren ist in Deutschland ziemlich viel passiert. Statt Massenarbeitslosigkeit herrscht zumindest in einigen Regionen fast Vollbeschäftigung. Die Staatskassen sind nicht mehr leer, sondern quellen über. Die Industriegesellschaft verwandelt sich in eine Digitalgesellschaft. Es gibt eine rechtspopulistische Partei, die die Ängste der Menschen für ihre dunklen Zwecke ausnutzt.
Dass vor diesem Hintergrund ausgerechnet bei der Grundsicherung alles beim Alten bleiben soll, klingt nicht unbedingt nach einer einleuchtenden These.
Was müsste sich ändern?
Es ist unter Fachleuten bis heute umstritten, inwieweit die Einführung von Hartz IV zu der wirtschaftlichen Trendwende in Deutschland beigetragen hat. Doch selbst wer Hartz IV in dieser Hinsicht positiv beurteilt, wird einräumen müssen: Es ist heute ökonomisch erheblich schwerer zu begründen als damals, warum die Regierung ausgerechnet bei denjenigen sparen soll, die ohnehin nicht viel haben.
Mehr Geld für Hartz IV
Daraus folgt, dass – erstens – der Regelsatz für die Bezieher der Grundsicherung dringend erhöht werden müsste. Schätzungen von Sozialverbänden zeigen: Wenn Hartz IV ein menschenwürdiges Leben mit einem Mindestmaß an sozialer Teilhabe ermöglichen soll, müsste man 50 bis 100 Euro mehr im Monat geben. Das könnte die Regierung schnell umsetzen.
Es könnte aber dazu führen, dass es sich für Geringverdiener nicht mehr rechnet, eine Arbeit aufzunehmen, weil sie dann weniger und nicht mehr Geld in der Tasche haben. Die Schlussfolgerung daraus kann nicht lauten, deshalb auf die Anhebung zu verzichten. Vielmehr muss der Staat – zweitens – dafür sorgen, dass Arbeit besser vergütet wird.
Wie das geht? Durch eine Entlastung der Bezieher niedriger Einkommen bei Steuern und Sozialabgaben, was inzwischen auch die Union so sieht. Mindestens genauso wichtig wäre es aber, den Mindestlohn zu erhöhen und damit das gesamte Lohngefüge nach oben zu verschieben.
Schwieriger zu beantworten ist die Frage, unter welchen Voraussetzungen die Stütze künftig ausbezahlt werden soll. Grünen-Chef Robert Habeck will die Grundsicherung durch ein Garantiesystem ersetzen. Die Idee: Anspruch auf eine staatliche Leistung haben zwar weiterhin nur diejenigen, die nicht über genug Einkommen und Vermögen verfügen, um für sich selbst zu sorgen. Allerdings werden Sanktionen für Menschen abgeschafft, die keine Lust auf Weiterbildungsprogramme haben oder Jobangebote ablehnen.
Grundeinkommen wäre Geldverschwendung
Das ist ein wichtiger Schritt weg vom bei den Grünen populären Konzept eines Grundeinkommens, dass allen Menschen – auch den Superreichen – zustünde und deshalb einer gigantischen und hochgradig unsozialen Geldverschwendung gleichkäme. Aber es ist zu befürchten, dass ein kompletter Wegfall der Sanktionen zu einem Missbrauch des Systems einlädt, der langfristig auch den Betroffenen schaden würde. Manchmal muss man eben zu seinem Glück gezwungen werden.
Richtig aber ist, dass die Sanktionen in vielen Fällen als Gängelung empfunden werden. Der richtige Weg wäre es deshalb – drittens – sie zu lockern. Es ist beispielsweise nicht einzusehen, weshalb Jüngere härter bestraft werden können als Ältere und weshalb auch Zuschüsse für die Unterkunft gekürzt werden können. Und es wäre auch wichtig, dass die Bezieher staatlicher Leistungen einen größeren Teil ihres Vermögens behalten dürfen, zumal wenn sie es sich hart erarbeitet haben. Es ist inzwischen fast ein Ritual: Immer, wenn Details zur derzeit alles in allem recht erfreulichen Lage der Staatsfinanzen bekannt werden, wird die Forderung nach einer umfassenden Entlastung der angeblich unter Steuern und Abgaben nur so ächzenden Bürger laut. So wird es höchstwahrscheinlich auch am Dienstag wieder sein, wenn das Statistische Bundesamt seine neuesten Zahlen veröffentlicht. Doch so einleuchtend die These vom alles erstickenden Steuerstaat angesichts kräftig gestiegener Staatseinnahmen auch sein mag: Sie stimmt so nicht.
Richtig ist: Wer in Deutschland als Single lebt, der hat steuertechnisch nicht viel zu lachen. Der Anteil der Einkommensteuern und Arbeitnehmerbeiträge zu den Sozialversicherungen beläuft sich nach Angaben der Industrieländer-Organisation OECD bei alleinstehenden Durchschnittsverdienern auf 39,9 Prozent des Bruttoverdiensts. Das ist – nach Belgien – der zweithöchste Wert aller entwickelten Volkswirtschaften weltweit. Der Durchschnittswert der OECD-Staaten liegt bei 25,5 Prozent. In der Berichterstattung über die Steuerlast in Deutschland wird vor allem diese Statistik zitiert, weil sie einen unmittelbaren Handlungsdruck nahelegt.
Reihenweise Vergünstigungen für Familien
Etwas anders sieht die Sache allerdings aus, wenn man sich die Steuerbelastung von Familien anschaut. Ein Ehepaar mit zwei Kindern und einem Verdiener muss im Schnitt 21,7 Prozent seines Bruttoeinkommens an den Fiskus abgeben. Deutschland ist damit auf Platz sieben der OECD-Rangliste, hinter Ländern wie Dänemark, Finnland oder Norwegen und in Reichweite von Staaten wie Frankreich (18,2 Prozent), Großbritannien (18,1 Prozent) oder Schweden (18,8 Prozent).
Der Grund für diese Differenz: Das deutsche Steuer- und Abgabenrecht sieht eine ganze Reihe von Vergünstigungen für Familien vor. Es gibt spezielle Freibeträge und zusätzliche Transferleistungen; Ehepaare können eine gemeinsame Steuererklärung abgeben, die gesetzliche Krankenversicherung versichert Kinder kostenlos mit. Anders formuliert: Mit Blick auf Familien lässt sich die Behauptung einer übermäßigen Belastung mit Steuern und Abgaben nur bedingt mit empirischen Belegen unterfüttern – zumal durch die geplante Teilabschaffung des Solidaritätszuschlags die große Mehrheit der Steuerzahler ohnehin entlastet werden wird.
Dieser Befund ist für die politische Debatte nicht unwichtig, weil darin in aller Regel gerade Familien als Opfer der vermeintlichen staatlichen Abgabenwut hingestellt werden. Einem kinderlosen Alleinverdiener traut man eher zu, schon irgendwie mit seinem Geld zurechtzukommen. Wenn Deutschland aber bei der steuerlichen Belastung von Familien im internationalen Mittelfeld liegt, dann geht den Anhängern einer großen Steuerreform ihr wichtigstes Argument verloren.
Baustelle Unternehmenssteuern
Es gibt allerdings einen berechtigten Einwand: In Deutschland müssen auch einige Unternehmen, genauer gesagt sogenannte Personengesellschaften, Einkommensteuer bezahlen. Das bedeutet konkret, dass zum Beispiel viele Handwerksbetriebe oder kleinere mittelständige Unternehmen möglicherweise mit der internationalen Konkurrenz nicht mehr mithalten können, wenn die deutschen Steuersätze zu hoch sind.
Die Lösung dieses Problems kann aber nicht darin bestehen, die Einkommensteuersätze so weit zu abzusenken, dass die deutschen Unternehmen immer und überall wettbewerbsfähig bleiben; dies käme einer Aufgabe des staatlichen Gestaltungsanspruchs gleich. Es müsste vielmehr gelingen, die Besteuerung von Unternehmen so weit von derjenigen von Personen zu entkoppeln, dass die Gesellschaft Einkommen gleich welcher Art so besteuern kann, wie sie es unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten für richtig hält.
Wäre die Teilhabersteuer eine Lösung?
Ein Ansatz wäre die sogenannte Teilhabersteuer, wie sie der Wirtschaftswissenschaftler Wolfgang Stützel in den Sechzigerjahren vorgeschlagen hat. Sie würde darauf hinauslaufen, dass nicht die Unternehmen, die Arbeitsplätze bereitstellen und Werte schaffen, sondern die dahinterstehenden Unternehmer beziehungsweise Anteilseigner besteuert würden. BMW, Mercedes oder Siemens würden also keine Steuern mehr bezahlen – dafür aber die Aktionäre von BMW, Mercedes oder Siemens.
In der Praxis wirft das natürlich eine Reihe von Fragen auf: etwa, wie mit im Ausland ansässigen Aktienbesitzern umzugehen ist. Aber es würde sich lohnen, über die Idee ausführlicher nachzudenken. Gab es da nicht einen Unionspolitiker, der sich mit Steuern auskennt und derzeit politisch arbeitslos ist?