Kiyaks Deutschstunde: Die Folter, der Hunger, das Ertrinken

 
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Kiyaks Deutschstunde
24.01.2019
 
 
 
 
Was meinen Politiker, wenn sie sagen, was sie sagen? Und: Was meinen sie wirklich? Mely Kiyak sagt’s Ihnen!


Die Folter, der Hunger, das Ertrinken
 
Täglich sterben Flüchtlinge auf dem Mittelmeer und enden als Zahlen ohne Namen. Die Verantwortung dafür wird nicht benannt. Dies zuzulassen ist keine Politik.
VON MELY KIYAK


Es sind die apolitischsten Zeiten seit Langem. Oder kennt irgendjemand auch nur eine einzige politische Maßnahme, die verhindert, dass auf den Meeren Menschen alleingelassen ertrinken? Ja klar, es wird Tag und Nacht über nichts anderes mehr geredet als über die Flüchtlinge und wie man sie sich um Himmels willen vom Hals halten kann. Aber getan wird nichts.
 
Ertrinken ist ein leiser Tod. Es ist nicht wie in den Filmen, wo mit den Armen geschlagen wird und es laut ist. Die Lungen laufen mit Wasser voll, es gibt kein Rufen, es gibt nicht genug Luft zum Schreien, irgendwann ist der Mensch vollgesogen mit Wasser, der Körper krümmt sich, bevor er stirbt. Es ist, als ob der Mensch sich ein letztes Mal vor dem Leben verbeugt, bevor er sinkt.   
  
Die Nachtsichtgeräte bleiben weiter auf die Meere fokussiert. Mittlerweile kann man mit Satelliten vom All aus Schiffe orten. Das Ertrinken geschieht live, aber ohne kommentierende Bauchbinde in den Nachrichten, ohne Ticker, ohne Eil-Eil, es wird protokolliert, nebenher gesendet, irgendwie bekommt man es mit, alle bekommen es mit. Es gibt Zeugenschaft zuhauf. Aber es wird niemand mit allzu vielen Details belästigt.
 
Die dort sterben, sollen lebende Warnhinweise für die folgenden Flüchtlinge sein. Aber sie haben keine Namen. Wenn nicht für jeden, der auf der Flucht stirbt, ein Stein an der Küste aufgestellt wird, wie soll man erkennen, dass dort gestorben wurde? Sie enden als Zahlen, man liest "170 ertrunken", aber sie hinterlassen keine Spuren. Es gibt keinen Friedhof. Solche Toten können nicht warnen, der Plan funktioniert nicht. Auch deshalb nicht, weil das, wovor sie fliehen, noch größer, noch schlimmer ist als Ertrinken. Nämlich so weiterleben.  
 
Was ist die Moral?
 
Es ist alles so unsinnig, auch wenn man bedenkt, dass jeder nur ein Leben hat. Aus Nachrichten werden Menschen, wenn man sie als solche erzählt. Wenn man ihnen eine Identität gibt, beschreibt, woher sie kamen, wessen Tochter und wessen Sohn sie waren. Was sie im Brustbeutel auf der Flucht bei sich trugen; als Trost, als Schutz, als Erinnerung. Was sie hinter sich ließen. Wen sie hinterließen.
 
Und man lernt, was eine Kulturleistung ist. Kulturleistung ist nämlich nicht immer nur etwas Edles. Eine Kulturleistung ist es auch, die Welt für diese Toten nicht anzuhalten. Sich innerlich von diesem Geschehen abgespalten zu haben und sich mit Redewendungen zu bewaffnen, die aus Flüchtlingen Migranten machen. Sich in einer Sprache zu verstecken, die in Folterlagern mit serieller Vergewaltigung sinnvolle Rückführungsmaßnahmen zu erkennen vermag. Die libyschen Lager, aus denen diese Verlorenen fliehen und in die sie mit europäischen Millionen alimentiert zurückgebracht werden, sind im politischen europäischen Sprachgebrauch sogar vom Auswärtigen Amt offiziell mit Konzentrationslagern verglichen worden, aber es bleibt eben alles aus, was möglich wäre, um das zu beenden. Die Zusammenhänge, die Verstrickungen, die Verantwortung und die Schuld werden nicht benannt. Das ist Kultur. Unser inoffizielles Weltkulturerbe.
 
Was soll man an dieser Stelle für eine Moral verkünden? Das muss jeder für sich entscheiden, was der Wendepunkt für ihn ist. Das Augenverschließen vor diesem Leid funktioniert, wenn man in denen, die kommen, nicht sich selbst erkennt. Wo man abgeschlossen ist, können Worte nichts mehr ausrichten. Wenn man sich nicht erreichbar zeigt für die Not der Anderen und ansprechbar bleibt, dann trennen sich hier die Wege.
 
Man kennt sie, die auf dem Schlachtfeld muskulöser Meinungen fündig wurden und glauben, die wahrste Wahrheit gefunden zu haben. Wer aber in diesen Tagen, bei denen es sich in Wirklichkeit auch schon um Jahre handelt, immer mehr Fragen als Antworten hat, der sei getröstet: Das ist normal.
 
Wohin wird das alles führen? Das fragt man sich doch. Das kann doch nicht ewig so weitergehen. Oder wird das so weitergehen? So gnadenlos, so wirr und irr, so schäbig und alles in allem desaströs. Die unguten politischen Kräfte sind derart vital, sie haben Jahrzehnte daran gearbeitet, dass es jetzt, genau jetzt, genauso ist, wie sie es planten. 
 
Das war mal anders geplant
 
Nämlich dass die Politik in Anbetracht der Ertrunkenen schon wieder so abwesend war, so abgestumpft, so leer. Man will sie mit dem größtmöglichen Vorwurf belästigen und sagen, hier fehlt der Respekt vor dem Leben, man weiß nicht, wie man es besser ausdrücken soll. Jedenfalls war da nichts. Keine Träne. Niemand, der sagte: Zieht die Leichen aus dem Wasser, wir lassen sie wenigstens als Tote zu und bestatten sie so, wie man Menschen bestattet. Vorausgesetzt, man hat eine Vorstellung davon, was das ist, ein Mensch.
 
Bald ist Europawahl und die deutschen Parteien – alle bis auf die eine, die mit der wahrsten Wahrheit – streiten sich immer noch darüber, wie man es schaffen könnte, das Gesicht zu wahren und gleichzeitig alles abzuschaffen, was dieses Land für einige wenige Jahre edel aussehen ließ.
 
Das Entsetzen nutzt sich nicht ab, kann sich gar nicht abnutzen, über diese selbstgefällige, vollgefressene Scheißeuropahaftigkeit. Man will das in alle Sprachen übersetzen und es an den Mittelmeerküsten verteilen lassen: "Kommt nicht, Flüchtlinge! Aus Angst vor euch stechen sie sich hier gerade gegenseitig ab." So war es doch. Paweł Adamowicz wurde in Danzig erstochen, weil er sich dem Hass und der Zwietracht verweigerte. Und sowieso passiert jeden Tag etwas, in Ungarn, in Polen, in Österreich. Das ist jetzt das neue Europa, aber noch viel enttäuschender ist: Das ist jetzt das neue Deutschland. Das war mal anders geplant.
 
Angesichts der bevorstehenden Europawahl muss doch mal jemand aufstehen und das Minimalnötigste formulieren. Nämlich dass Schluss sein muss mit dem lächerlichen Patrouillieren in den Parteiprogrammen. Diese Politik ist nicht nur endlich, sie ist fertig. Sie ist wirklich fertig.
 
Realpolitik funktioniere anders, bekommt man zur Antwort. Realpolitik?, fragt man zurück. Was ist denn das Gegenteil davon? Science-Fiction-Politik? Die libyschen Lager, die Folter, der Hunger, die Ertrinkenden, das ist real. Dies zuzulassen ist nicht Realpolitik, sondern gar keine Politik.



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