"Einer der wichtigsten Abrüstungsverträge steht vor dem Ende", schrieb Matthias Nass in der vergangenen Woche in seiner 5vor8-Kolumne. Es sieht ganz so aus, also ob er recht behält. Dem Bundesaußenminister scheint es nicht gelungen zu sein, mit seiner Pendeldiplomatie zwischen Moskau und Washington die Russen und Amerikaner in Sachen INF-Vertrag zum Einlenken zu bewegen. Am 2. Februar läuft die Sechzig-Tage-Frist ab, die Washington den Russen gesetzt hat, um nachzuweisen, dass ihr neuer Marschflugkörper 9M729 nicht den INF-Vertrag verletzt, der Mittelstreckenraketen mit einer Reichweite von 500 bis 5.500 Kilometern verbietet. Aller Voraussicht nach wird Trump Ende dieser Woche den Austritt verkünden.
Der US-Präsident Ronald Reagan und der Kremlchef Michail Gorbatschow hatten diesen Vertrag nach langen Verhandlungen 1987 unterzeichnet. In den Jahren danach verschrottete Washington 846 seiner Pershings und Marschflugkörper, Moskau 1846 der sowjetischen SS-20. Europa atmete auf. Der Schatten eines Atomkriegs, der jahrzehntelang auf dem Kontinent lastete, war mit einem Mal verschwunden.
Die Beendigung des INF-Abkommens könnte der Beginn einer neuen Phase atomaren Wettrüstens sein. Das Pentagon lässt schon neue Mittelstreckenraketen entwickeln, Russland wird dahinter nicht zurückstehen. Dann läuft Anfang 2021 auch der New-Start-Vertrag aus, der die russischen und amerikanischen Kernwaffenarsenale auf je 1550 Interkontinentalraketen herabsetzte. Gleichzeitig jedoch sind die beiden nuklearen Großmächte dabei, Hunderte von Milliarden in die Modernisierung ihrer offensiven und defensiven Kernwaffen zu stecken. Europa jedoch könnte durch die Sturheit der Trump-Administration und die Hartnäckigkeit Putins in eine neue Nachrüstungsdebatte gestürzt werden.
Die Abkehr vom INF-Vertrag wäre zugleich eine Abkehr vom größten Erfolg der deutschen Sicherheitspolitik während des Kalten Krieges. Seltsamerweise wird diese unbestreitbare Tatsache in der gegenwärtigen Debatte kaum je erwähnt: Der Vater des historischen Abkommens war Helmut Schmidt. Mit dem Auslaufen des Vertrags würde ein Kernelement seiner Strategie demontiert. Warum nicht daran erinnern?
Das Jahr 1977 war für den damaligen Bundeskanzler ein Jahr schwierigster Herausforderungen. Der RAF-Terror hielt ihn in Atem – die Entführung Hanns-Martin Schleyers, die Kaperung der Lufthansa-Maschine "Landshut" und deren Befreiung in Mogadischu, die Stammheimer Selbstmorde und die Ermordung Schleyers. Aber zugleich beunruhigten Schmidt die Stagnation der MBFR-Verhandlungen über konventionelle Abrüstung und vor allem der ständig fortschreitende Ausbau der sowjetischen SS-20-Raketenflotte. In ihr sah er eine "Pressionswaffe", die geeignet war, Europa und Amerika in Krisensituationen voneinander zu trennen. Am 28. Oktober 1977 – zehn Tage nach dem Mord an Schleyer – hielt er beim Londoner Institut für Strategische Studien die Rede, aus der dann binnen zwei Jahren der viel umstrittene, am Ende jedoch erfolgreiche Nato-Doppelbeschluss heranreifte.
Nach diesem Beschluss sollten in fünf europäischen Nato-Ländern 572 neue US-Mittelstreckenwaffen – 108 Pershing II und 464 Cruise Missiles aufgestellt werden (alle Pershings und 96 Marschflugkörper in der Bundesrepublik). Gleichzeitig jedoch sollten den Sowjets Rüstungskontrollverhandlungen angeboten werden: Verzichtete Moskau auf die SS-20, würde die Nato von der Aufstellung der Pershings und Cruise Missiles Abstand nehmen; sonst würde sie nach Ablauf von vier Jahren mit westlichen Mittelstreckenwaffen nachziehen.
Die Verhandlungen begannen 1981. Zunächst verliefen sie ergebnislos, sodass der Westen ab 1983 nachrüstete. Aber vier Jahre später gab Moskau nach. Helmut Schmidt hat es nicht mehr im Kanzleramt erlebt, dass seine Bemühungen Früchte trugen. Der Nato-Doppelbeschluss war einer der Gründe, weshalb er 1982 gestürzt wurde. Die Friedensbewegung im Lande hatte immer größeren Zulauf erhalten und die eigene Partei verweigerte ihm die Gefolgschaft; beim Kölner Parteitag stützten nur noch 16 Delegierte seine Position.
Die Geschichte hat Helmut Schmidt bestätigt, die Gegner des Doppelbeschlusses der Kurzsichtigkeit überführt. Im Rückblick schrieb er: "Auf das Endresultat bin ich immer noch stolz… Der INF-Vertrag wurde tatsächlich der allererste beiderseitige Abrüstungsvertrag der Geschichte; die Welt verdankt ihn dem Zusammenwirken zwischen Paris, London, Washington und Bonn – und der schließlichen Einsicht in Moskau." Tatsächlich signalisierte der Doppelbeschluss den Kremlherren – "einer machtbesoffenen Sowjetunion", sagte Schmidt –, dass das Nato-Bündnis noch beschluss- und handlungsfähig war. Und immerhin brachte er Gorbatschow dazu, sich von der teuren Sinnlosigkeit der SS-20-Raketen zu überzeugen.
Die Bundesregierung sollte sich nicht den Schneid abkaufen lassen
Helmut Schmidts sicherheitspolitische Grundeinstellung erscheint mir auch heute noch – oder besser: wieder – sehr einleuchtend. In seinen Worten: "Einerseits ausreichende Solidarität und Handlungsfähigkeit, um Moskau abschrecken zu können, notfalls sich auch wirklich verteidigen zu können; andererseits die Bereitschaft, mit dem Kreml auf wichtigen Gebieten, besonders auf dem Feld der Rüstungsbegrenzung, zu kooperieren."
Was würde Schmidt wohl zur heutigen Diskussion sagen? Ich habe keinen Zweifel; dass er für geduldige Verhandlungen wäre. Gegen eine Aufkündigung des Vertrages und für dessen geographische Erweiterung auf die zehn Staaten, die sich mittlerweile Mittelstreckenraketen angeschafft haben. Und gegen ein neues atomares Wettrüsten. Immerhin hat er sich zusammen mit Richard von Weizsäcker, Hans-Dietrich Genscher und Egon Bahr dem Appell vier amerikanischer Senior-Staatsmänner angeschlossen, die sich für Global Zero – eine atomwaffenfreie Welt – einsetzen.
Zu ihnen gehört neben Henry Kissinger, William Perry und Sam Nunn auch George Shultz. Ronald Reagans Außenminister Shultz hat sich unlängst mit bemerkenswerter Eindeutigkeit zu der INF-Diskussion geäußert. "Dies ist nicht die Zeit, noch größere Kernwaffenarsenale zu bauen!", sagte er. "Dies ist die Zeit, die Welt von der nuklearen Bedrohung zu befreien. Den INF-Vertrag zu verlassen, das wäre ein Riesen-Rückschritt. Wir sollten den Vertrag in Ordnung bringen, anstatt ihm den Garaus zu machen."
Die Bundesregierung sollte sich nicht den Schneid abkaufen lassen. Noch ist der INF-Vertrag zu retten. Nach dem amerikanischen Austritt bleiben sechs Monate, ehe er rechtswirksam wird – Zeit für ernsthafte Verhandlungen.