Kiyaks Deutschstunde: Freiheit lernen

 
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Kiyaks Deutschstunde
26.10.2017
 
 
 
 
Was meinen Politiker, wenn sie sagen, was sie sagen? Und: Was meinen sie wirklich? Mely Kiyak sagt’s Ihnen!


Freiheit lernen
 
Eigentlich wollte man der AfD im neuen Bundestag "auf der Sachebene" begegnen. Das ist offenbar nicht so einfach. Einer dreht halt immer durch.
VON MELY KIYAK

Was Serienjunkies das Netflix-Abo und Sportbegeisterten Sky ist, ist Freunden der Demokratiekultur der Fernsehsender Phoenix. Für Freaks, Fans und Fetischisten von Parlamentsdebatten muss der Dienstag wie Weihnachten, Hochzeit und Papstwahl an einem Tag gewesen sein! Es lief die Konstituierung des 19. Bundestages.  
 
Stundenlang konnte man zusehen, wie "die da oben" oder "die in Berlin", wie der Volksmund gelegentlich despektierlich das Parlament bezeichnet, sich organisierten.  
 
Jeder neue Bundestag beginnt damit, dass der Alterspräsident die erste Sitzung leitet, in der der Bundestagspräsident und seine Stellvertreter gewählt werden. Hierarchisch betrachtet steht der Bundestagspräsident zwischen dem Bundespräsidenten und dem Bundeskanzler.
 
Wer das Geschehen ohne besondere politische Bildung von außen betrachtete, sah eine mehrstündige Zeremonie mit einer Aneinanderreihung von Eröffnungsrede, Begrüßungsrede, Antrittsrede und Dankesrede, sowie Stimmabgaben mit anschließenden Auszählungen, unterbrochen durch das Überreichen von Blumensträußen.
 
Tatsächlich handelt es sich bei dieser ersten Sitzung der neu gewählten Abgeordneten um die Gründung der politischen Versammlung, bei der aus den Stimmen des Wahlvolkes Bundestagsmandate werden. Demokratie ist ja nicht, wenn es beschlossen, sondern wenn eingerichtet wird. Konstituierung meint die Bildung des Systems. Dass man dabei live zuschauen kann, ist ein Privileg. Gäbe es keinen öffentlich-rechtlichen Sender wie Phoenix, der unabhängig von Einschaltquoten aus dem Parlament sendet, wer sollte es sonst tun?
 
Viele bemerkenswerte Momente
 
Wie bei der Übertragung von Fußballspielen ebenfalls üblich, hatte der Sender eine Art Vor-, Nach- und Nebenberichterstattung eingerichtet. Das klingt spöttisch, aber so ist es nicht gemeint. Man erfuhr viel Interessantes. Es gab nämlich nicht den einen aufsehenerregenden, wohl aber viele bemerkenswerte Momente.
 
Durch eine kniffelige Neuregelung wurde verhindert, dass das 77-jährige AfD-Mitglied Wilhelm von Gottberg als Alterspräsident die Eröffnungsrede halten durfte. Schade. Man hätte man schon gern erfahren, was so einer, geboren mitten im Zweiten Weltkrieg, vertrieben und geflohen, den Parlamentariern auf den Weg gegeben hätte.
 
Stattdessen eröffnete Hermann Otto Solms von der FDP und bedankte sich bei seinen Wählern für das schöne Ergebnis und dafür, dass er wieder im Bundestag sitzen dürfe, voll happy und ergriffen, totale Ehre. Nun war aber nicht Wahltag, sondern Bundestag; diese Sprechmöglichkeit wird einem nicht gegeben, um über sich zu reden, sondern über das Parlament, aber was will man von einer Internetpartei, digital first und so weiter, anderes als diese hochnotpeinliche Selfie-Pose erwarten? 
 
Der AfD-Abgeordnete Bernd Baumann reagierte auf die trickreiche Blockade, indem er behauptete, dass es sich beim letzten Mal, als ein Alterspräsident verhindert wurde, um Hermann Göring handelte, der mit dem gleichen Manöver Clara Zetkin verhindern wollte. Überflüssig zu erwähnen, dass die Medien durchdrehten, weil diese Äußerungen sämtliche Erwartungen übertraf. Keine 20 Minuten waren vergangen und schon fällt der Name eines NSDAP-Mitglieds. Die AfD verortete sich übrigens bei der verfolgten linken Kommunistin Zetkin und die "etablierten Altparteien" bei den Nazis.
 
Ein verdutztes "Hä?" in Merkels Gesicht
 
Nun hieß es in den Wochen zuvor oft, man wolle der AfD im Bundestag mit Argumenten "auf der Sachebene" begegnen und sich nicht provozieren lassen. Das Gegenteil geschah. Es folgten Wortmeldungen und Empörung, unübertroffene Geschmacklosigkeit, Vergleich mit Nazi-Opfern, geht gar nicht, geht so was von gar nicht. Auf Sachebene zu antworten, hätte so geklungen: Lest noch einmal nach. Göring hatte 1933 nicht Clara Zetkin verhindert, sondern den Nazi Karl Litzmann, aus dem einfachen Grund, weil er selbst reden wollte.
 
Anderer Auftritt, ebenfalls beachtlich, Carsten Schneider aus der SPD, wütend, enttäuscht, gedemütigt, man kann es ja verstehen. Der Verdacht, dass die SPD ihr Ziel künftig darin sieht, die Kanzlerin persönlich herauszufordern, als handele es sich um ein Geschirrspül-Turnier zwischen Villarriba und Villabajo, verhärtet sich zunehmend.  
 
Schneider schäumte: Merkels Politikstil sei verantwortlich für die AfD. Die Kamera fing kurz ein, wie die Bundeskanzlerin erschrocken aufschaute. In ihr Gesicht war ein völlig verdutztes "Hä?" gezeichnet. Zu Recht, denn bis vorgestern spülten SPD und CDU gemeinsam. Martin Schulz polterte ihr den gleichen Vorwurf am Wahlabend in der Berliner Runde entgegen, seitdem wiederholt ihn die SPD, es ist fast wie Tourette. 
 
Super einfach, super langwierig
 
Blöd verlief auch die Abstimmung über den Antrag, wonach die Kanzlerin sich viermal im Jahr einer Bundestagsbefragung zur Verfügung stellen solle. Die SPD hätte ihr Anliegen auch an einem anderen Tag äußern können, denn noch gibt es weder eine neue Regierung, noch eine neu gewählte Kanzlerin. Es hoben sich die Hände der SPD mit denen der AfD und bildeten ein gemeinsames Ganzes. Man war sich spontan einig. Das Klicken der Kameras, die dieses Bild einfingen, erschallte explosionsartig.
 
Wie gesagt, für Spezialisten, die verrückt sind nach dieser Art Politikberichterstattung war es ein großer Tag. Parlament übrigens leitet sich von parlement, vom Reden ab. Man redet, streitet, stimmt ab. Super einfach, super langwierig. Drei Wahlgänge mit insgesamt 709 Abgeordneten, einzig um Albrecht Glaser von der AfD als Vizepräsident zu verhindern, kann als plakative Symbolik genauso gelesen werden wie als hilflose Geste. Rührend ist einzig, wie sorgfältig sämtliche Regularien bei größtmöglicher Distanz zum Geschehen eingehalten werden. Man kann sagen, was man will, die repräsentative Demokratie schreibt immer noch die aufwendigsten Skripts.
 
Diejenigen, die nach der Bundestagswahl meinten, dass die Welt sich trotz der Rechtsextremen als drittstärkste Fraktion im Deutschen Bundestag wie gewohnt drehen wird, müssten spätestens jetzt zugeben, dass durch die Anwesenheit der AfD im Bundestag alles länger dauert.   
 
Während man gebannt auf Phoenix den ganzen Abstimmungswahnsinn verfolgte, blieb einem ein Halbsatz besonders im Gedächtnis. Er stammt von Wolfgang Schäuble, dem frisch gewählten Bundestagspräsidenten und war möglicherweise nicht als zentraler Leitgedanke gedacht, aber schön klang es doch, wie er leise und weise schwäbelte: "… immer wieder die richtige Ballonsch auch im Umgang mit Freiheit lernen." Freiheit lernen, das ist es doch!


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