Freitext: Ulrike Draesner: Das finnische Geheimnis

 
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25.10.2017
 
 
 
 
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Das finnische Geheimnis
 
 
Das Beharren auf Eigenheit muss nicht zwangsläufig den Willen nach Abspaltung nach sich ziehen. In Finnland kann man sehen, wie Europa funktionieren könnte.
VON ULRIKE DRAESNER

 
© [M] ZEIT ONLINE – Frantisek Gela/CTK / AP/dpa
 
Sisu. Das muss man mit scharfem zweitem „s“ aussprechen. Betont auf der ersten Silbe: sisu. Klingt für deutsche Ohren zwar nach „Susi“, ist aber das finnische Geheimnis. Als solches natürlich unübersetzbar. Annäherungen sagen, es heiße Durchhaltekraft, Zähigkeit, eine Art Mut im Ertragen – sozusagen Stapfen durch Kälte und Schnee, bei karger Kost. Darauf ist man hier stolz. Darauf gründet man hier, erzählen mir die Finnen, die mich seit drei Wochen umgeben – ich bin in Helsinki – und blicken heiter-ernst. Eine bedeutende Sache, schließlich, so ein Nationalgefühl.
 
Und mein Gefühl? Europas Rand. Da stehe ich und schaue. Ja, es gibt Ränder im Westen, hier ist Norden. Es stimmt nicht immer, dass man eine Sache von ihren Rändern her besser versteht, aber manchmal doch. Hier ist es ruhig, kein Finn-xit droht, keine interne Abspaltung. Einer der Züge am Hauptbahnhof fährt nach Petersburg. Russen in den Straßen, im Baustil russische Einflüsse, Birkenwälder, Karelien etc. Europa, wo es halb ins Nordmeer stürzt: riesig, aber kaum besiedelt, fünfeinhalb Millionen Menschen konzentriert auf Helsinki. Ein kleiner Flughafen – fast so klein wie Tegel.
 
In Tampere wird die erste Straßenbahn gebaut. Die U-Bahn der Hauptstadt besteht aus einer Linie, die man immer geradeaus rauf und runter fahren kann. Alles ist teuer, vieles importiert. Mülltrennung ja, aber mäßig, nicht in dem Haus, in dem ich wohne. Biokost vereinzelt, Preise astronomisch. Exotische Früchte im Supermarkt erst seit zehn Jahren, das Angebot klein, das System denkbar kompliziert und veraltet: Alles wird einzeln vom Kunden gewogen, nicht nach Bildchen auf der Waage, sondern nach Nummern, die man sich merken muss. Am Ausgang stehen Spielautomaten, die immer besetzt sind. Man hat Zeit. In London gibt es bekanntlich eine U-Bahn, die auch ziemlich tief unter der Stadt fährt. In London sind die langen Rolltreppen schnell, auf einer Seite wird gestanden, auf der anderen gegangen, und immer ist die Gehseite, Mensch um Mensch, in dichter Bewegung. In Helsinki ist die U-Bahn ebenfalls tief, schließlich liegt die Stadt am Meer – und alles steht rechts und steht – und ich bin die Einzige, die weniger Zeit zu haben scheint und läuft.
 
Wo bin ich, wenn ich in Europa bin? Seit Jahren gibt es reichlich Anlass, sich dies zu fragen, dieser Tage erneut. Auf der Rolltreppe vor mir steht ein Wikinger mit einem Kumpan. Manchmal höre ich Englisch hier, es ist kaum zu erkennen. Welch Akzent. Als ich im Supermarkt junge Menschen frage (frisch gelerntes Englisch, denke ich), was Hühnchen heißt, wissen sie es nicht. Der Wikinger vor mir folgt einem Modestil, den hier öfter sehe: Tücher und Streifen. Haare unten abrasiert, die oberen Strähnen nach hinten gebündelt zu einem dünnen, geraden Zopf. Ohrringe, Ringe, Jeans. Ja, man ist stolz. Dass man nicht unterging, sich gegen jahrhundertelange Fremdherrschaften die eigene Sprache bewahrte. Sisu. Mehr und mehr Männer heißen nun auch wieder so: Sisu.


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