10 nach 8: Nora Burgard-Arp über Sexualität

 
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18.10.2017
 
 
 
 
10 nach 8


Nennt sie beim Namen!
 
Scheide, Vulva, Mumu, Muschi: Über das weibliche Geschlechtsorgan zu sprechen, fällt vielen schwer. Besonders im Umgang mit Kindern ist Deutlichkeit wichtig.
VON NORA BURGARD-ARP

Ein Ausschnitt aus dem berühmten Gemälde "Die Geburt der Venus" von Sandro Botticelli von 1483 © Wikimedia Commons
 
Ein Ausschnitt aus dem berühmten Gemälde "Die Geburt der Venus" von Sandro Botticelli von 1483 © Wikimedia Commons
 
 

Ich höre und führe diese Gespräche schon seit Jahren: Warum gibt es kein "vernünftiges" Wort für das, was Frauen zwischen den Beinen haben? Früher fragten wir uns das während alkoholträchtiger Diskussionen in verrauchten WG-Küchen, heute sprechen die Mädcheneltern von uns darüber auf dem Spielplatz. Denn absurderweise scheint es noch immer ein Thema zu sein, wie Frauen ihre, naja, ihre Dings nennen sollen.

Muschi und Mumu sei peinlich, hieß es früher. Vagina auch irgendwie komisch, Fotze verbiete sich sowieso von selbst, und Scheide sei schlicht und ergreifend furchtbar. Ein Bekannter sagte neulich halb scherzhaft, Feministinnen sollten sich doch bitte mal darum kümmern, ein ordentliches Wort für die (hihi) Scheide zu finden. Den Penis als Penis zu bezeichnen, scheint dagegen kein Problem zu sein – weder für Männer noch für Frauen. Der Begriff ist eindeutig. Der Penis heißt nun mal so.

Dabei gibt es in der deutschen Sprache auch einen eindeutigen Ausdruck für das weibliche Genital, einen sehr schönen dazu: die Vulva. "Leider ist der Begriff wenig verbreitet", sagt die Sozialwissenschaftlerin Ulrike Schmauch, die zu Sexualpädagogik, Körper und Sexualität forscht. Zu wissenschaftlich vielleicht, dabei bezeichnet Vulva passend die äußeren und inneren Geschlechtsorgane, während Scheide oder Vagina die nicht sichtbaren Teile der Genitalien erklären. Es könnte also alles ganz einfach sein, ist es aber anscheinend nicht. Ich weiß das, weil ich seit Kurzem eine Tochter habe.

"Ihr sagt aber jetzt nicht ernsthaft Scheide, wenn ihr über ihre Dingens redet, oder?", fragte mich ein kinderloser Freund kurz nach der Geburt. Auf mein entrüstetes "Wieso denn nicht?!" wurde nur herumgedruckst: Das klinge doch komisch, sei ein peinliches Wort und so weiter. Einen wirklichen Grund nennen konnte er mir nicht. Überhaupt scheint mir, dass gerade viele Nicht-Eltern das Wort Scheide offenbar als Zumutung empfinden. Bei jungen Müttern und Vätern steht es höher im Kurs. Wobei mir auch viele befreundete Eltern erzählen, dass sie sich erst mal daran gewöhnen mussten. Dabei ist es gar nicht schwer: Je öfter man es sagt, desto normaler wird es. Versprochen. Scheide, Scheide, Scheide. Ist nicht schlimm.

Bei anderen sind Kunstwörter wie Mumu, Möse oder Muschi in Gebrauch. Und mich irritiert das. Vermitteln Verniedlichungen unseren Töchtern nicht ein eigenartiges Bild ihrer Vulva? "Nein", sagt Ulrike Schmauch. Im Gegenteil: "Es gibt im Bereich der Sexualität immer auch Kinder- oder Privatsprache." Für Kinder ist es ja auch völlig in Ordnung, einfache, angenehme Worte zu finden. Doch wenn Eltern oder Erzieher sich überwinden müssen, das Wort Scheide auszusprechen, wird es vor allem für die Kinder seltsam.

Unschön ist da beispielsweise auch der leider immer noch nicht ausgestorbene Sechzigerjahrebegriff "da unten". Und was in ähnliche Richtung geht: Allzu oft sprechen Eltern und Großeltern ausschließlich vom Popo, wenn sie eigentlich die Vulva meinen: Popo waschen, Popo abputzen, neue Windel für den Popo machen und, und, und. Damit wird die Vulva verschwiegen, quasi ins Nicht-Existente verdrängt beziehungsweise mit dem Hintern gleichgesetzt. Und das kann weitreichende Folgen für das Selbstbild von Mädchen und Frauen haben.

Wenn Mädchen erleben, dass Erwachsene ihre Genitalien gar nicht oder falsch benennen, hat das nachweisliche Wirkungen auf ihre sexuelle Entwicklung, erklärt Ulrike Schmauch. Genauso wenn die Vulva belächelt oder gar als beschämend behandelt wird. "Diese Erfahrung erzeugt für Mädchen eine Leerstelle im Selbst- und Körperbild und enthält sogar ein implizites Onanieverbot", sagt sie. Meist berühren schon kleine Mädchen sich selbst, erforschen sich, ihre Klitoris und ihre Lust. Wird nun aber immer wieder nur von "da unten" oder dem "Popo" gesprochen, führt das zu einem Widerspruch – zwischen dem eigenen Gefühl und der angeblichen Nichtexistenz oder negativen Bewertung der lustbereitenden Vulva.

Mumu, Möse oder Muschi?

Männliche und weibliche Geschlechtsorgane sind in unserer Kultur semantisch völlig unterschiedlich besetzt. "Die Vulva wird einerseits mit Minderwertigkeit, andererseits mit Schmutz, mit gefährlicher oder auch anziehender Rätselhaftigkeit verbunden", sagt Ulrike Schmauch. Der Penis hingegen wird in den meisten Fällen assoziiert mit Macht, aktiv gelebter Sexualität und Potenz. Dies seien nach wie vor tief verwurzelte kulturelle Bilder, mit denen sich jede neue Eltern- und Erzieher-Generation auseinandersetzen muss. Genau wie mit dem Problem der Sprache und mit kindlicher Sexualität.

Die Entdeckung der eigenen Lust ist ein wichtiger Schritt in der Entwicklung von kindlicher Autonomie, sagt Schmauch. Vor allem, weil Kinder darüber auch lernen, dass sexuelle Lust etwas mit Intimsphäre, Grenzen und Rücksichtnahme zu tun hat. In Kindertagesstätten sollten Doktorspiele oder Kuscheleinheiten zwischen Kindern beispielsweise viel stärker akzeptiert und durch Rückzugsorte ermöglicht werden. Mit zwei einfachen Regeln: Erstens nichts reinstecken; zweitens, es geschieht nichts gegen den Willen eines anderen Kindes. Doch auch hier wirkt noch immer oft ein falsches Gefühl von Scham. Ähnlich wie beim Verschweigen oder dem schambehafteten Benennen der Vulva.

Durch solche Verdrängung steigt übrigens auch die Zahl von Schönheitskorrekturen – im Geschlechtsbereich. Wir leben in einer Bewertungsgesellschaft, die vor allem Frauen suggeriert: nicht schlank genug, nicht schön genug, nicht sexy genug, nicht richtig genug. Der daraus erwachsende Selbstoptimierungsdrang schließt längst den Genitalbereich ein. 2015 haben nach Angaben der Internationalen Gesellschaft für Ästhetische und Plastische Chirurgie (ISAPS) weltweit mehr als 95.000 ihre Vulva operativ verändern lassen. Seit Enthaarungsmethoden wie Brazilian Waxing zur Mode geworden sind, gleicht das Ideal eines weiblichen Intimbereichs ohnehin dem eines kleinen Mädchens.

Dieser überaus bedenkliche Trend ist nur ein weiteres Beispiel dafür, wie wichtig es ist, dass Frauen bereits in ihrer Kindheit und Jugend ein selbstverständliches und positives Verhältnis zu ihren Geschlechtsorganen entwickeln.

Wenn wir also mit kleinen Mädchen normal und positiv über ihre Geschlechtsorgane sprechen, machen wir ihnen damit ein Geschenk fürs Leben. Wir verhelfen ihnen zu positivem Körpergefühl, einer selbstbewussten Sexualität und nicht zuletzt zu Autonomie.  Ein Scheiden- oder Vulvadiktat braucht es dabei freilich nicht: Nehmt einfach das Wort, mit dem ihr euch selbst am wohlsten fühlt – egal ob das Mumu, Muschi, Vagina oder Vulva ist. Aber sprecht es aus.

Nora Burgard-Arp arbeitet als freie Journalistin und Autorin in Hamburg. 2014 hat sie das Wissenschaftsportal "Anorexie – Heute sind doch alle magersüchtig" gegründet. 2015 war sie damit für den Grimme Online Award nominiert. Sie ist Gastautorin von "10 nach 8".


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